Auricher Regentenporträts: Ständesaal der Ostfriesischen Landschaft – "Schlösschen", Aurich
Ulrich entstammte der Häuptlingsfamilie von Greetsiel. Sein Vater Enno hatte das angefallene Erbe der Norder Attena bekommen und war damit Häuptling zu Norden geworden. Seine Mutter Gela war die Tochter des Affo Beninga, Häuptlings zu Pilsum und Manslagt, und der Tiadeka von Berum aus der noch höher angesehenen Familie „Tzyerza“, das heißt Cirksena. Sie war Ennos zweite Ehefrau sowie Enno ihr zweiter Ehemann. Nachdem ihr einziger Sohn aus erster Ehe, der Häuptling Liudward Cirksena („Syrtza“) zu Berum Mitte der dreißiger Jahre des 15. Jahrhunderts kinderlos verstorben war, blieben sie und ihre Nichte Frauwa Cirksena („Sydzena“) die alleinigen Erben der Cirksena von Berum. Enno verheiratete seinen Sohn aus erster Ehe, Ulrichs Stiefbruder Edzard, daraufhin mit Frauwa, und beide übernahmen den Familiennamen von ihren Ehefrauen. Während Gela ihrem Ehemann Enno schon zwischen 1404 und 1408 mit dem väterlichen Beninga-Erbe die Häuptlingswürde zu Pilsum und Manslagt einbrachte, bekam Edzard nun von seiner Ehefrau Frauwa Berum. Erst als Edzard und Frauwa 1441, ohne Kinder zu hinterlassen, verstarben, wurde Ulrich Haupterbe auch der Cirksena von Berum; und er hielt ebenfalls an diesem Familiennamen fest. Angesichts der großen Bedeutung, die dieser Familie offensichtlich zukam, dürfte es sich daher bei dem sog. Manslagter Wappen, das die ostfriesischen Grafen neben dem der tom Brok und Ukena in ihr landesherrliches Wappen aufnahmen, um das der Cirksena von Berum handeln. Denn Gela wurde in der Überlieferung (wohl nach ihrer Mitgift) „von Manslagt“ genannt.
Ulrich trat 1430 (mit seinem Vater und älteren Stiefbruder Edzard) erstmals politisch handelnd in Erscheinung. Betrachtet man die Lebensdaten seiner Eltern und Geschwister im Zusammenhang, so ist Ulrich wahrscheinlich gegen 1408 geboren; und zwar dann wohl in Norden, in dem Ort, den er auch später als seinen eigensten Sitz ansah. Gestorben ist Ulrich am 25. oder 26. September 1466 auf seiner Burg in Emden. Er wurde am 27. September dieses Jahres im Benediktinerkloster Marienthal zu Norden beigesetzt. Nachdem dieses Kloster 1531 zerstört und Ulrichs Enkel, Graf Enno II. 1540 gestorben war, erfolgte nach der Fertigstellung des monumentalen Enno-Grabmals in der Großen Kirche zu Emden 1548 die Umbettung der Gebeine der Cirksena – und damit auch Ulrichs – von Norden nach Emden. Im Jahre 1948 wurde der Rest dieser Gebeine in der zerstörten Großen Kirche geborgen und in das 1875/76 auf dem Friedhof zu Aurich errichtete Mausoleum der Ostfriesischen Fürsten überführt.
Ulrich wird zunächst in Norden und Manslagt (oder Larrelt), zuletzt in Greetsiel aufgewachsen sein, denn nachdem sein Onkel Haro, Häuptling zu Greetsiel, kinderlos verstorben war, hatte sein Vater diese Stammburg geerbt. Er erlebte dann die wachsende Opposition unter den Ostfriesen gegen Ocko II. tom Brok, angeführt von Focko Ukena mit seinen Söhnen, der sich auch Ulrichs Vater Enno anschloß. Sie führte 1427 zum Sturz der tom-Brokschen Herrschaft, aber zu ihrer Enttäuschung erhielten die Ostfriesen ihre gegen die moderne Herrschaftsgewalt ins Feld geführten traditionellen Freiheitsrechte nicht zurück, sondern die Häuptlingsherrschaften der Ukena und ihrer Freunde entstanden aufs neue. Die Bauern, die weniger zur Wiederherstellung der Souveränität der Häuptlinge als vielmehr der Freiheit der Gemeinheit angetreten waren, fühlten sich betrogen und richteten, angeführt nun von den Cirksena, ihren Zorn gegen die neuen alten Herren. Zu einem vollständigen Sieg über die Ukena und ihre Freunde bedurfte es jedoch noch zusätzlicher Kräfte, in diesem Falle eines stärkeren freien Gemeinwesens: der Stadt Hamburg. Sie verhalf 1433 durch die Einnahme von Emden und den Sieg bei Norden (Bargebur) endgültig dem ostfriesischen Freiheitsbund zum Erfolg, der aber zugleich den Anfang vom Ende des friesischen Freiheitstraums machte. Der Preis für die Sicherung war die Besetzung Emdens und des Südens von Ostfriesland durch die Hamburger. Sie lehrte die Ostfriesen, daß ohne Herrschaft die Freiheit, ohne Macht das Recht keinen Bestand haben konnte.
Diese schon bald allgemein akzeptierte Erfahrung kam der Stellung der Cirksena sehr zugute, die ihrerseits aus der Vergangenheit gelernt hatten, daß eine Ausbildung und Ausübung von Macht und Herrschaft unter Verletzung des Rechtsempfindens und Freiheitsgefühls der Ostfriesen letztlich zum Scheitern verurteilt waren. So räumten die Landesgemeinden den Cirksena und deren engsten Freunden wieder die Herrschaft über sich ein – im Vertrauen darauf, daß durch sie eine Gewaltherrschaft alten Stils nicht zurückkehre, und wohl auch in Furcht davor, daß sie sonst womöglich auch einer Fremdherrschaft anheim fallen könnten. Diese Möglichkeit war ihnen noch mehr zuwider.
Hamburg hat im Jahre 1439 seine ostfriesische Herrschaft beiden Cirksena-Brüdern zur Verwahrung übergeben. Für die hansische Stadt war es wie für die ostfriesischen Länder nur von Vorteil, hier keine Alleinherrschaft zu haben, obgleich ab 1440 Edzard sich auf Emden und das Norderland, Ulrich sich auf Esens und das Auricherland konzentrierten; Hamburg gegenüber zeigten sie zudem keine Hemmungen, sich (unrechtmäßig) Häuptlinge zu Emden zu nennen. Aber ein nicht vorhersehbares Ereignis machte einen Strich durch diese Rechnung der Gewaltenteilung: Edzard und seine Frau, noch kinderlos, raffte 1441 eine Seuche dahin, so daß mit einem Schlag die ganze Verantwortung Ulrich allein zufiel. Erst jetzt konnte sich zeigen, was in ihm steckte, und ob die Erwartungen, die sein Schwiegervater Wibet in ihn als Erben für das Harlingerland gesetzt hatte, von ihm auch für das übrige Ostfriesland erfüllt werden konnten. Ulrich, der sich seit 1444 auch Häuptling in Ostfriesland nannte, ließ keinen Zweifel daran aufkommen, daß er seine Herrschaft in Ostfriesland sicherzustellen gedachte. Er vermied Gewalt und Willkür und beachtete Recht und Gewohnheit. Diese kluge Rücksichtnahme auf das ausgeprägte Rechtsempfinden der Ostfriesen und sein überzeugendes Verhalten, das es ihm damit ernst sei, festigten das Vertrauen in ihn und damit seine Autorität enorm.
Ulrich betätigte sich auch als Kirchenherr. So ergriff er die Initiative zum Wiederaufbau von durch die Kriegswirren beschädigten oder zerstörten Kirchen wie im Falle von Esens und Hinte 1442 oder solcher, die aus Kostengründen in Verfall geraten waren, wie im Falle von Marienhafe 1462. In diesen Zusammenhang gehören auch die Neubauten von Chören wie in ebendiesem Jahr zu Weener oder 1454 in Emden bzw. von Ostteilen mit Querschiff und Chor wie zu Norden, wo damit 1445 durch Ulrich, und im übrigen ebenfalls unter Beteiligung der Pfarrer und Norder, begonnen worden war. Wie in Esens entstand hier ein eindrucksvoller Hochchor: ein Zeichen nicht nur frommer, sondern auch höfischer Repräsentation und eines dynastischen Selbstgefühls, das Ulrich am ehesten in diesen beiden Ländern entwickeln konnte. Er empfand sich als Herr von Stand und Ehre. Dieses Selbstverständnis fand das Einverständnis der Ostfriesen. Dem entsprach auch das neue Ansehen, das ab 1441 zunächst noch sein Bruder, danach aber auch er selbst gelegentlich schon als „Junker“ bzw. „domicellus“ genoß.
Aber auch als Verwahrer von Hamburgs Herrschaft in Ostfriesland wurde Ulrich zusehends von sich aus initiativ. Nicht nur daß er 1442 der Emder Gemeinde zur Ratsverfassung verhalf und den Ausbau der Burg in Angriff nahm, nachdem ihr letzter angestammter Häuptling Imel Abdena in Hamburg inhaftiert verstorben war, mußte aufmerken lassen, sondern auch und besonders daß Ulrich mit Unterstützung zumindest der Lengener Landesgemeinde die Grenzfeste Detern wieder aufbauen ließ, war ein deutliches Anzeichen eigenen Willens. Anders als die Ostfriesen, mit denen er sich im Einvernehmen wissen durfte, konnten und wollten dieses die Hamburger, die sein Verhalten als Entfremdung verstehen mußten, nicht hinnehmen: Sie kehrten daher 1447 nach Emden zurück und nahmen ihre ostfriesische Herrschaft wieder selbst in die Hand. Ulrich erhob dagegen keine Einwände, sondern beugte sich dem Recht, das Hamburg dazu ja hatte.
Hatte Ulrich den Hamburgern ihre von ihm verwahrte Herrschaft auch wieder ausgehändigt, so war er doch keineswegs gewillt, sich allein auf den Ausbau seiner Herrschaft über den anderen Teil Ostfrieslands zu beschränken. Er bediente sich jetzt des Drängens der vertriebenen Häuptlinge nach Rückkehr als deren Anwalt ebenso wie der eingefleischten Antipathie der Ostfriesen gegen Fremdherrschaft, vermied aber offenkundigen Rechtsbruch wie ungerechtfertigte Gewaltanwendung den Hamburgern gegenüber. Erst als diese ihm die Erstattung seiner Auslagen, insbesondere für den Wiederaufbau der Burg Detern, verweigerten, erhielt Ulrich den willkommenen Vorwand, dem Drängen der Ostfriesen nachzugeben und die Hamburger aus Ostfriesland zu vertreiben. Am Ende dieser Auseinandersetzung mußte sich Hamburg geschlagen geben und räumte Ulrich 1453 die Herrschaft wieder ein. Obwohl Sieger, mußte Ulrich dafür kräftig zahlen. Die Stadt verpfändete Ulrich ihre Herrschaft für 10 000 Mark, ließ sich von ihm und seinen nächsten Verwandten Sibet Attena, seinem Neffen, und Lutet Manninga, seinem Schwager, huldigen und behielt sich zudem wichtige politische Rechte und wirtschaftliche Freiheiten wie hinsichtlich des Burgen(aus)baus (den Ulrich 1458 in Emden fortführte) und der Biereinfuhr im besonderen vor, konnte aber erst nach 16 Jahren dieses Pfand wieder einlösen, so daß Ulrich immerhin genügend Zeit gewann, seine Position mählich und merklich zu verbessern. In realistischer Einschätzung auch des Kräfteverhältnisses suchte er sich dazu eher diplomatischer als militärischer Mittel zu bedienen.
Die Begründung seiner rechtmäßigen Herrschaft war besonders kompliziert, da die Landesgemeinde hier keine Einheit bildete, vielmehr aus lauter Kirchspielsgemeinden bestand mit eigenen Häuptlingen, von denen die meisten zudem noch vertrieben worden waren. Vereint waren sie nur durch das geltende Emsiger Landrecht; und darin sah Ulrich eine große Chance. Er schuf im Einvernehmen mit seinen Verwandten und den Verbündeten eine neue, für alle (auch ihn) verbindliche Institution im Emsigerland: die der beiden Landrichter. Über dieses Instrument, indem er sie zusehends zu seinen Beamten werden ließ, bemächtigte Ulrich sich dann der Gerichtshoheit im Emsigerland und entmachtete damit die übrigen Häuptlinge und Herren, da sich das frühere Richteramt als wesentlicher Bestandteil der Herrschaft für die Häuptlinge fortan erübrigte. Von Rechts wegen konnten diese nunmehr nur noch auf ihr Erbgut einen begründeten Anspruch erheben; und den konnte und wollte ihnen Ulrich auch nicht länger bestreiten. Gegen Anerkennung seiner Hoheit (wie z. B. 1442 durch Redert Beninga von Groothusen) versprach er, sie darin gegenüber Hamburg zu unterstützen, dessen Ansprüche gegenüber den Vertriebenen er als Verwalter der hamburgischen Herrschaft andererseits auch sorgfältig beachtete.
Für die Sicherheit seiner Herrschaft über die anderen ostfriesischen Länder drohte Ulrich ebenfalls von Seiten des Erbrechts Gefahr, da Nachkommen der einst hier regierenden Häuptlinge von daher ein gleiches oder besseres Recht oder ein solches allein geltend machen konnten. Gegen entsprechende Abfindung und Entschädigung ließ sich Ulrich daher von den Nachkommen der Idzinga von Norden (wie den Kankena 1442), der tom Brok (wie den Allena 1449 und dem Addinga 1453) und der Abdena von Emden (den Häuptlingen Abeko von Loppersum und Gerd von Petkum 1460 wie Eggo Addinga 1466) oder auch von Verwandten seines Vetters von Eilsum 1445 deren Rechtstitel rechtsverbindlich abtreten. Im Falle der Häuptlinge von Loquard, die sich als nächste Nachkommen und eigentlichen Erben auch „tom Brok“ nannten, mußte Ulrich sich daher zu dem Kompromiß verstehen, daß sie wenigstens in Loquard, Campen und Rysum bestimmte Herrschaftsrechte selbst wahrnehmen durften. Bezüglich des Erbrechts auf Esens und die davon mit ausgehende Herrschaft über das Harlingerland verzichtete Ulrich gemäß Testament im Frühjahr 1454 auf diesen Anspruch zugunsten der Tochter Foelkes aus erster Ehe, Onna, und seines mit dieser verheirateten Neffen Sibets Attena. Sibet verzichtete dafür auf sein mütterliches Erbteil zugunsten Ulrichs und versprach ihm außerdem, daß seine Erben (wie er) Ulrich und dessen Erben „treu und hold“ sein werden.
Nach dem Tod seiner ersten Frau heiratete Ulrich wieder, diesmal eine Frau, die erheblich jünger war als er; und die Wahl, die er traf, lag ganz auf dem Kurs seiner auf Landesherrschaft zielenden dynastischen Politik: Es war Theda, 21 Jahre alt, die Enkelin des Focko Ukena, der einst den ganzen Süden Ostfrieslands beherrscht hatte. Am 1. Juni 1455, Sonntag nach Pfingsten, wurde dann diese Ehe geschlossen und die Hochzeit auf der Burg Berum gefeiert. Theda brachte das Erbrecht auf Oldersum, dessen Häuptling ihr Vater Uko gewesen war, und das jetzt Wiard von Uphusen zu seinem Herrschaftsbereich Oberemsigerland zählte, mit. Das gab Ulrich ein Rechtsmittel in die Hand, mit dem er Wiard, der eine von ihm unabhängige und von daher rechtlich gleiche Stellung einnahm, zu schwächen vermochte. Wiard mußte nun, um Oldersum behalten zu dürfen, Faldern, mit dem er Emden Konkurrenz machen wollte, an Ulrich und Theda abtreten; aber damit nicht genug: Ulrich verhalf dem Häuptling Gerd zulasten Wiards durch ein lokales Herrschaftszugeständnis zu seinem Recht auf Petkum; dieser verzichtete dafür zugunsten Ulrichs auf sein Recht an Emden. Ulrich gab dann Wiard den Burgbesitz von Jarssum und Widdelswehr, den ihm dessen letzter Häuptling vermacht hatte.
Ulrich gab sich mit den vertraglichen Regelungen des Herrschaftsverhältnisses von Hamburg und ihm in Ostfriesland keineswegs zufrieden, sondern setzte alles daran, sie aufzuweichen und aufzuheben, um hier uneingeschränkt und dauerhaft herrschen zu können. Der Erwerb von Rechtstiteln, die die Erbfolge der Abdena von Emden wie der Ukena von Leer sicherstellten, war ein wichtiges Mittel dieser Politik – auch gegenüber den Ostfriesen. Damit man ihn aber auch nicht des Rechts- und Vertragsbruchs bezichtigen konnte, bemühte er sich 1461 mit Erfolg beim Vatikan darum, daß er mit seinen beiden Verwandten von dem Hamburg seinerzeit geleisteten Eid entbunden wurde. Am liebsten war ihm natürlich ein ausdrücklicher Verzicht Hamburgs, über den er auch zu verhandeln begonnen hat. Doch die Hamburger winkten wohl gleich ab, so daß deren Oberhoheit, was Emden und Leer mit den Umlanden betraf, über ihm schweben blieb. Ulrich benötigte letztlich in vielerlei Hinsicht für eine unanfechtbare eigene Landesherrschaft einen höheren und umfassenden Rechtstitel. Er strebte nun für sich und sein Haus die Erhebung in den Grafenstand und für seine Herrschaft die Umwandlung in eine Grafschaft als ein Lehen des Reiches an.
Die erstrebte Aufwertung gelingt ihm aber im ersten Anlauf nur für seinen eigensten Herrschaftsbereich Norden, im zweiten Anlauf jedoch, im Jahre 1464, auch für die übrigen Gebiete, die er inzwischen beherrschte und besaß, darunter ausdrücklich auch Emden und „Emesgonien“. Einen Herrschaftsanspruch auf Ostfriesland „bis an die Weser“ vermochte er sich so allgemein auch noch verbriefen zu lassen, womit Ulrich seine weitergesteckten politischen Ziele und seinen dynastischen Ehrgeiz deutlich erkennen ließ. Indem im Lehnsbrief nur die von Ulrich besessenen Burgen und auch – abgesehen von „Emesgonien“ – keine Ländernamen aufgeführt wurden, wurde von seiten des Kaisers und Reichs hier für Schutz und Herrschaft offensichtlich das Erbrecht, das Ulrich nachweislich geltend machen konnte, als maßgeblich zugrunde gelegt. Somit blieben denn auch ausdrücklich unberührt alle „Freiheiten und Gerechtigkeiten“, die den „gemeinen Landen zu Ostfriesland“ von Karl dem Großen und nachfolgenden Kaisern und Königen, zuletzt von Friedrich III. selbst, verliehen worden waren. Wie Ulrich als Reichsgraf diese Privilegien zu wahren hatte, so mußten die Ostfriesen ihm als solchen auch huldigen.
Das Verhältnis seines neuen Lehnsmannes zu den anderen selbständig verbliebenen ostfriesischen Häuptlingen suchte der Kaiser dadurch zu regeln, daß er an sie Mandate ergehen ließ des Inhalts, ihr „Gericht und Gerechtigkeit“ ihrerseits von Ulrich und seinen Erben zu Lehen zu nehmen. Das taten die Nachkommen und Erben Wiards von Uphusen denn auch, nicht dagegen der Häuptling von Jever und auch nicht der Friedeburger. Die übrigen Häuptlinge, die sich ihm schon als Landeshäuptling ergeben hatten, haben ihm nun auch als Reichsgrafen in aller Form gehuldigt. Von seinem Neffen Sibet Attena zu Esens und Stedesdorf wie den Manninga zu Pewsum und Lütetsburg ist weder eine Belehnung noch Huldigung schriftlich überliefert, wurden in dieser Form wohl auch nicht für angebracht gehalten. Sie haben ihm aber in jedem Falle auch gehuldigt, wie es Sibet ja selbst zum Ausdruck gebracht hat, und der am kaiserlichen Hof als „Lehensträger“ angesehen wurde. Aber diese wegen der besonderen, persönlichen Nähe nicht zu fordernde und geforderte schriftliche Fixierung des Verhältnisses zum Grafen blieb für die Zukunft ein Schwachpunkt.
Die Schaffung der ostfriesischen Reichsgrafschaft war die Aufwertung und damit Absicherung der Landesherrschaft, so wie sie Ulrich zu Recht und in der Tat besaß, die reichsrechtliche Legitimation auch einer Oberherrschaft gegenüber den anderen Häuptlingen im restlichen ostfriesischen Küstenraum. Sie wappnete Ulrich gegen einen territorialen Zugriff des Bischofs von Münster, indem sie dessen Anspruch übertraf: Ulrichs neue Grafschaft ließ die alte des Bischofs von Münster nicht mehr zum Zuge kommen. Aber Ulrich wollte auch die hamburgischen Hoheitsansprüche loswerden und seiner dynastischen Politik vollends zum Erfolg verhelfen. Dazu mußte er nun etwas in die Hand bekommen, mit dem er die Hamburger wirklich, weil empfindlich, treffen konnte. Das gelang Ulrich damit, daß er sich vom Kaiser noch das Recht verleihen ließ, in seinem Land von ausländischem Bier Zoll erheben zu dürfen. Und in der Tat. Dies rief die Hamburger sofort auf den Plan und brachte Verhandlungen in Gang. Ulrich erlebte es nicht mehr, aber sein Sohn Edzard erreichte es am Ende des 15. Jahrhunderts, daß die Stadt Hamburg wie auch der Bischof von Münster von einer Erneuerung ihrer Herrschaft Abschied nahmen, zumal er ihnen mit Geld versüßt wurde.
Die in Wiener Neustadt ausgestellte kaiserliche Lehensurkunde datiert vom 1. Oktober 1464. Vier Tage später wurde hier eine weitere Kaiserurkunde ausgestellt, mit der Ulrich und 21 weitere Friesen in den Ritterstand erhoben wurden. Vollzogen wurden diese Akte am Sonntag, den 23. Dezember 1464 in der Franziskanerkirche zu Emden vor versammelten Ostfriesen. Ulrich leistete hier den Lehnseid; zugleich wurden er und sein Neffe Sibet Attena zu Rittern geschlagen. Die Urkunden hierüber wurden dann auf der Burg zu Emden am gleichen Tag ausgestellt. Seitens der versammelten Ostfriesen dürfte eine allgemeine Huldigung erfolgt sein. Mit Bedacht hat Ulrich die Franziskanerkirche als Ort dieses Geschehens ausgewählt. Denn hier hatten die westfälischen Grafen im hohen Mittelalter ihren Sitz gehabt. Sinnfälliger konnte nicht demonstriert werden, daß es sich hier auch um eine Erneuerung der alten Grafschaft des Reiches handelte, hiermit also eine Tradition aufgegriffen und weniger etwas Modernes geschaffen worden ist. Es handelte sich mithin auch hierbei letztlich um gutes altes Recht.
Als Ulrich bald 60 Jahre alt starb, hinterließ er eine Witwe im Alter von 32 Jahren mit sechs kleinen Kindern, das jüngste, die Tochter Almut, gerade ein Jahr alt. Die beiden ältesten Kinder waren auch Töchter, Heba, geboren am 18. November 1456 (oder 1457) und Gela, geboren am 9. Februar 1458 (oder 1459). Ihnen folgten die drei Söhne: Enno, geboren am 1. Juli 1469, Edzard, geboren am 15. Januar 1462, und Uko, geboren am 1. April 1464. Mit Hilfe Sibets Attena, der auch die kaiserliche Belehnung für die drei unmündigen Söhne Ulrichs entgegennahm, und der Manninga als Vormünder trat Gräfin Theda das Erbe Ulrichs als Regentin an.
Wie der erste ostfriesische Graf ausgesehen hat, wissen wir nicht. Erst mit dem Sohn Ulrichs, Graf Edzard I., beginnt die Reihe der authentischen Grafen- und Fürstenporträts. Henricus Ubbius, der 1530, kurz nach Edzard I. Tode, Ostfriesland beschrieb, bescheinigte Ulrich immerhin auch „Schönheit“. Vom Lebensgefühl, geschweige denn Sehnsüchten und Ängsten, wissen wir bei ihm – wie zumeist von den Menschen im Mittelalter – nichts. Seine Förderung von Kirchen und Klöstern sowie der benediktinischen Reformbewegung, die auch schon Wibet von Stedesdorf unterstützt hatte, den Plenarablaß, den Ulrich und Foelke sich 1442 wie ihre Verwandten und Freunde auch von Papst Eugen IV. besorgten, oder der Tragaltar, den sie sich bewilligen ließen, sind sicherlich nicht allein aus dem Streben zu erklären, die Standesgleichheit mit anderen Herren seiner Zeit zu demonstrieren, sondern sind wohl auch als Ausdruck der Frömmigkeit seiner Zeit zu werten, die Ulrich und seine Nächsten damals erfüllt hat.
Überblickt man Ulrichs Lebenswerk, so hat er eigentlich nichts völlig Neues geschaffen. Recht, Freiheit, Herrschaft waren die überkommenen und bestimmenden Kräfte, mit denen er – wie schon andere vor (und noch nach) ihm – umzugehen hatte. Daß ihm es nun im Unterschied zu anderen so vorzüglich gelang, lag daran, daß er nicht Freiheit und Genossenschaft durch Macht und Herrschaft zu verdrängen suchte, sondern sie mit ihnen zu versöhnen verstand. Dabei kam ihm freilich zugute, daß nach dem Scheitern extremer Vorstellungen auf der einen wie anderen Seite die Zeit reif geworden war für einen Kompromiß und Konsens. Aber es kam noch etwas hinzu, das in seiner Person begründet lag, was ihn vor anderen auszeichnete und ihm eine große Autorität verlieh: sein besonderes Verhältnis zum Recht. Indem er sich erkennbar an den gegebenen Rechtsverhältnissen wie an dem überlieferten Rechtsverständnis orientierte und das Landrecht als Maßstab zugrundelegte, konnte ihn niemand bei seinem Vorgehen der Gewalt und Willkür bezichtigen, und indem er das Recht dafür instrumentalisierte, legitimierte er damit seine Politik. Das hinderte ihn andererseits nicht, wenn nötig und möglich, auch mit Geld und Gewalt nachzuhelfen bzw. diese Mittel stattdessen einzusetzen und die damit geschaffenen Tatbestände hinterher rechtsverbindlich abzusichern. Die sachliche Rechtssicherheit, die von Ulrichs Herrschaftsführung grundsätzlich ausging, schuf so viel Vertrauen, daß selbst seine erklärten dynastischen und angedeuteten feudalistischen Vorstellungen bis hin zur Erhebung in den Grafenstand die Ostfriesen nicht wieder mißtrauisch werden ließen. Auch wenn die Verteilung von Macht und Ohnmacht hier mit eine Rolle spielten, so wird bei all dem doch deutlich, daß unter den verschiedenen Faktoren, die seine Herrschaft ermöglichten und bestimmten, ein ganz besonderer Faktor die Persönlichkeit von Ulrich selbst war.
Hajo van Lengen