Auricher Regentenporträts: Ständesaal der Ostfriesischen Landschaft – "Schlösschen", Aurich
Enno leidet in der Beurteilung bis heute darunter, daß er der Person des Grafen Edzard I. als Sohn und Nachfolger nicht gleichkam. War es Unfähigkeit oder Schicksal? Alles deutet darauf hin, daß diese Frage mit dem ersten Wort beantwortet werden muß.
Schon vor seinem Regierungsantritt leistete sich Enno ein Bubenstück, von dem man nicht weiß, ob der Vater es gebilligt hat. Dieser hatte ja 1517 den Knebelvertrag mit den unmündigen Schwestern des Christoph von Jever geschlossen, nach welchem seine Söhne diese im Lauf der Jahre heiraten sollten. Zehn Jahre später hoben Enno und sein Bruder Johann diesen Vertrag praktisch auf, indem sie Boing von Oldersum in Jever als ostfriesischen Statthalter einsetzten. Sie dachten nicht daran, das vom Vater gegebene Heiratsversprechen zu erfüllen und kränkten damit die Fräulein von Jever in ihrer adligen und weiblichen Ehre aufs Tiefste. Enno hat damit letztenendes die ostfriesischen Ansprüche auf das Jeverland auf immer verspielt, da sich Maria von Jever als unerwartet zähe Gegnerin erwies, deren aus diesen Beleidigungen erwachsener Haß nicht wieder erlosch.
Nach des Grafen Edzard I. Tode stand für Enno die zu nehmende Richtung der Politik fest, nämlich die Erfüllung des Traumes von Graf Ulrich I. von der Unterwerfung der ganzen ostfriesischen Halbinsel. Auf Butjadingen verzichtete er allerdings schon bei seiner Heirat 1530 mit der Gräfin Anna von Oldenburg. Der Herrlichkeit Jever glaubte er sicher zu sein, und so blieb als Ziel das Harlingerland.
An dieser Stelle muß auf eine Lücke unseres Wissens verwiesen werden, die das Urteil über Enno mitbestimmt. Soweit man weiß, hat Graf Edzard I. seine Politik aus eigenen Einkünften finanziert. Wie kommt es, daß Enno sich von Anfang seiner Herrschaft an in Geldnöten befindet? Hatte er schon eine Erblast übernommen, wie er sie seinen Nachfolgern auf zweihundert Jahre bereitete?
Sicherer sind wir in der Erkenntnis, daß Enno wie sein Vater religiöse Verantwortung nicht in sich fühlte und sich da eher von den Notwendigkeiten des Tages beeinflussen ließ, wenn auch der falsch unterrichtete Luther ihn lobte. Seine Passivität in geistlichen Angelegenheiten führte jedenfalls zu einem nahezu chaotischen geistlichen Leben in Ostfriesland, wo alle Reformer des katholischen Lebens ihre Stimmen erheben konnten. Es gehört auch dazu, daß Enno in den letzten Jahren vor seinem Tode offensichtlich an eine Rekatholisierung dachte.
Diese religiöse Gleichgültigkeit steht schon am Anfang von Ennos Herrschaft, als er der in der deutschen Reformation allgemeinen Aufhebung der geistlichen Anstalten in Ostfriesland eine nirgends sonst erreichte brutale Note verlieh. Das vordergründige Ziel war, den materiellen Besitz der Klöster in bares Geld umzuwandeln. Der Graf ließ aber zu, daß Helfer und Helfershelfer sich an diesem über Jahre erstreckenden Raubzug beteiligten, und daß von Kontrolle oder Abrechnung nicht die Rede war. Die Vernichtung ging bis in die Bausubstanz der Anstalten, die buchstäblich vom Erdboden getilgt wurden, und bis in ihre Bibliotheken und Archive, welche zur Vertuschung des Unrechts durchweg spurlos beseitigt wurden. Es bleibt die ewige Schande für Graf Enno, kurzfristiger materieller Vorteile halber veranlaßt zu haben, daß die mittelalterliche Geschichts- und Kulturüberlieferung Ostfrieslands auf immer zerstört worden ist.
Derart mit Geld versehen, verlangte Enno alsbald von dem Junker Balthasar in Esens die Unterwerfung des Harlingerlandes. Dieser warf sich flugs dem Herzog Karl von Geldern als Lehnsmann in die Arme. Nach 1533 wurde Ostfriesland von der „geldrischen Fehde“ heimgesucht; Raub und Brand durchtobten das Land, wie man es seit Generationen nicht mehr erlebt hatte. Am Ende blieb alles beim alten, obwohl man sicher annehmen kann, daß nur Ennos früher Tod ihn an der Weiterverfolgung seiner harlingischen Ansprüche gehindert hat.
Die finanzielle Situation des Grafen Enno verschlechterte sich weiter durch die Forderungen seines Bruders Johann auf Abfindung. Dieser war ihm immer ein treuer Genosse in allen Torheiten gewesen, hatte auch das von Graf Edzard I. festgesetzte Erstgeburtsrecht des Bruder anerkannt, verlangte aber endlich eine hohe Summe Geldes, die 1538 auf 100 000 Gulden bestimmt wurde. Dieses aber geschah durch die ostfriesischen Landstände, die bei dieser Gelegenheit zum ersten Mal hell in das Licht der Geschichte treten. Ihr Aufstieg ist das nachhaltigste Ergebnis von Ennos Regierung. Graf Edzard I. hatte sie im Grunde nicht benötigt und nur gelegentlich ohne feste Ordnung und Zusammensetzung berufen. Wie in allen alteuropäischen Territorien entsprach die Geldknappheit des Herrschers umgekehrt proportional der Macht der Landstände; der mit Enno beginnenden chaotischen Finanzwirtschaft des Hauses Cirksena steht folgerichtig die wachsende Macht der ostfriesischen Stände gegenüber.
35jährig starb Graf Enno 1540 in Emden, wo er auf der Burg residierte, und erhielt in der Großen Kirche der Stadt ein prächtiges Grabmal im Renaissancestil, ein einzigartiges Monument in der Geschichte der Dynastie. Das durch Verfall und Zerstörung schwer beeinträchtigte Denkmal steht in seiner künstlerischen Qualität hoch über der Person des darunter Bestatteten.
Walter Deeters
Weitere Porträts:
Der Bruder: Johann „der Ältere“ (1506-1572)
Den um ein Jahr jüngeren Bruder des Grafen Enno II. von Ostfriesland traf als ersten seines Geschlechts das Problem der Nachbürtigkeit, nachdem Graf Edzard I. die Primogenitur im Hause Cirksena festgesetzt hatte. Solange der Vater lebte, folgte Johann in allem und jedem dem älteren Bruder. Dann trat er in kaiserliche Dienste und war bei der Krönung Karls V. durch Papst Clemens VII. in Bologna anwesend. Sein Ehrgeiz fand wohl kein Ziel, so daß er in die Heimat zurückkehrte und dem Bruder in allen Torheiten des geldrischen Krieges und der ungezügelten Reformation beistand. Vielleicht achtete er mehr als der Ältere auf die Zustände in den Niederlanden, wo er am Hofe der Statthalterin Maria von Ungarn manchen Bekannten aus seinen kaiserlichen Dienstjahren haben mochte.
1538 heiratete er Dorothea von Österreich, eine außereheliche Tochter des Kaisers Maximilian I. Zu seiner Abfindung verlangte er von seinem Bruder Graf Enno II. 100.000 Gulden, eine ungeheure Summe für ostfriesische Verhältnisse, die dieser nur mit Hilfe der Landstände aufbringen konnte. Auch zog Johann den Bruder in einen noch nicht ganz geklärten Versuch, den Katholizismus in Ostfriesland wiederherzustellen. Nach dem Tode Enno II. 1540 gar führte er sich als Herr im Lande auf, residierte in Emden und behauptete sich als Vormund seiner unmündigen Neffen und Nichten gegen seine Schwägerin, die Gräfin Anna von Ostfriesland.
Sein katholisches Bekenntnis hat Johann nie verleugnet. Als 1543 Kaiser Karl V. nach der Unterwerfung des Herzogs Wilhelm zu Kleve, Jülich und Berg die Verwaltung der benachbarten Lande reformierte, ernannte er Johann zum Herrn von Durbuy und Generalstatthalter zu Limburg, Falkenburg, Dalheim und der Lande jenseits der Maas. Johann bezog die Burg Falkenburg bei Maastricht als Residenz – weswegen er oft auch Graf von Falkenburg genannt wurde – und griff nicht mehr in Ostfriesland ein. Seine Tätigkeit als Statthalter des Herzogtums Limburg ist im Einzelnen noch ganz unbekannt. 1556 wurde Johann Ritter des Ordens vom goldenen Vlies.
Seine Nachkommen behielten bis ins 17. Jahrhundert die Burglande von Coldeborg im Reiderland. In der dritten Generation starben sie in männlicher Linie aus. Bis 1685 erhielten sie Abfindungen auf die 1538 zugesagten 100.000 Gulden. Noch 1732 prozessierten die Vormünder von Johanns Ururururenkel Charles d’Immerselle gegen den Fürsten von Ostfriesland um diese Gelder.
Walter Deeters