Auricher Regentinnenporträts: Ständesaal der Ostfriesischen Landschaft – "Schlösschen", Aurich
Neben den bekannten Cirksena-Grafen Edzard I. und Enno II. gehört die Gräfin Anna von Ostfriesland als Vormundschaftsregentin in die Reihe der Herrscherinnen, deren Regentschaft als eher unspektakulär zu bezeichnen ist. Und dennoch war es insbesondere für ihre Regierung charakteristisch, daß sie in der spannungsgeladenen Zeit des religiösen Umbruchs sehr früh schon unmißverständlich Akzente zu setzen versuchte, die tendenziell auf die Etablierung eines „konfessionsneutralen“ Systems hindeuten.
Anna wurde um 1500 als Tochter des Grafen Johann und der Gräfin Anna von Oldenburg geboren. Ihre Erziehung war geprägt durch die traditionellen Spannungen mit dem Nachbarterritorium Ostfriesland. Wenngleich kaum etwas über die Jugendjahre Annas bekannt ist, so ist zumindest belegt, daß sie bereits als junge Frau zu Bildungs- und Erziehungszwecken an den kurbrandenburgischen Hof nach Cölln geschickt wurde.
Die Heirat zwischen der Prinzessin Anna von Oldenburg und dem ostfriesischen Grafen Enno II. 1529 markiert ein vorläufiges Ende der territorialen Auseinandersetzungen beider Dynastien im Nordseeküstenraum. Die Dynamik der Reformation entwickelte sich in Ostfriesland zu einer eigenständigen Kraft, deren Handlungsspielraum analog anstieg zur mangelnden obrigkeitlichen Ordnungfunktion. Dies war prägend und bestimmend für den politischen und religiösen Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizont der Gräfin Anna von Ostfriesland. An der Seite ihres Mannes zunächst betraut mit den traditionellen Aufgaben der fürsorgenden Mutter und Ehefrau, deutete sich in den 1530er Jahren durch eigenständige politische Initiativhandlungen sachte das politische Gespür der neuen ostfriesischen Landesherrin an.
Die Handlungszwänge und der Erneuerungswillen der Gräfin Anna von Ostfriesland lassen sich nur vor dem Hintergrund der sozialen und verfassungsmäßigen Realitäten im Küstenraum verstehen. Vor allem die Interessengegensätze zwischen Reich und Territorium einerseits, gräflicher Autorität, adeliger Selbstbehauptung und städtischem Autonomiebegehren andererseits vor der Kulisse der disparaten konfessionellen Entfaltung in der Grafschaft Ostfriesland spielten hierbei eine herausragende Rolle. Anna verkörperte dabei sicherlich nur in geringem Maße den Typus einer persönlich herrschenden Regentin – unvorbereitet und ohne große politische Erfahrung übernahm sie nach dem Tod ihres Mannes 1540 die Führung der Grafschaft und war dabei ganz auf die loyale Unterstützung des landsässigen einheimischen Adels angewiesen.
Die ungeklärten religiösen Verhältnisse in der Grafschaft Ostfriesland, die Entwicklung hin zu der so charakteristischen konfessionellen Gemengelage, warfen Probleme auf, mit deren Lösung Anna allein konfrontiert wurde. Im politischen Dauerkonflikt mit ihrem Schwager, dem Grafen Johann von Ostfriesland, beanspruchte Anna mit Hilfe der ostfriesischen Stände die vormundschaftliche Regierung des Landes. Unmißverständlich machte sie ihren Anspruch deutlich, das Erbe Graf Ennos II. für ihre unmündigen Kinder zu schützen. Als neue Vormundschaftsregentin richtete Anna ihr Hauptaugenmerk auf die Lösung der drängenden konfessionellen Frage. Darüber hinaus war sie daran interessiert, planmäßig politische wie kirchliche Maßnahmen zu ergreifen, um die obrigkeitliche Durchsetzungskraft der Dynastie Cirksena in Ostfriesland zu stärken. Anna vertrat eine Politik, die zu einem vergleichsweise frühen Zeitpunkt – nämlich vor dem Interim von 1548 – Merkmale einer konfessionsneutralen und vermittelnden Haltung aufwies. Sie verfolgte damit einen Weg, der die spezifischen Herrschafts- und Kirchenstrukturen sowie die machtvolle Einflußnahme des Kaisers zu berücksichtigen versuchte.
Für die Grafschaft Ostfriesland war dies eine Politik des Ausgleichs: strikte Loyalität zum Kaiser einerseits, aber keine konfessionelle Festlegung, um den „inneren Frieden“ des Landes nicht zu gefährden. Maßgeblich mitgestaltet wurde diese Politik von Annas Bruder, dem Grafen Christoph von Oldenburg. Selbst überzeugter Anhänger des evangelischen Bekenntnisses, darf angenommen werden, daß er es war, der für die Grafschaft Ostfriesland einen politisch-konfessionellen Kurs des Ausgleichs durchsetzte. Dieser Weg definierte sich – insbesondere angesichts der drohenden Demonstration des Schmalkaldischen Krieges – über eine strikte Loyalität zum Kaiser und die planmäßige Konsolidierung der gräflichen Herrschaft im Rahmen der Territorialstaatsbildung. Wie sehr das Interim dabei fördernd wirkte, demonstrierte die Neuordnung der gräflichen Verwaltung seit 1548, in der mit dem neuen Kanzler Friedrich ter Westen und dem Rat und Präzeptor Petrus Medmann programmatisch zwei Männer an die Spitze der Verwaltung berufen wurden, die aus dem engsten Umfeld des Kölner Erzbischofs Hermann von Wied stammten. Sie fanden nach den gescheiterten Reformationsbemühungen in Köln in Ostfriesland eine neue Wirkungsstätte und trieben den Prozeß des politisch-konfessionellen Pragmatismus auf der administrativen Führungsebene effektiv voran.
Diese Entwicklungen nach 1548 waren vor dem Hintergrund der politischen, verfassungsmäßigen und religiösen Realitäten in Ostfriesland und mit Blick auf die zeitliche Begrenztheit der vormundschaftlichen Regierung Annas vor allem als dynastische Perspektivplanung angelegt: Die Erziehung ihrer Kinder, die der Söhne ebenso wie die der Töchter, nahm dabei eine richtungweisende Funktion ein – der älteste Sohn Edzard wurde am klevischen Hof des irenisch denkenden Herzogs Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg erzogen, die jüngeren Christoph und Johann erhielten eine akademische Ausbildung an dem vom vermittelnden Geist des Schulhumanisten Johann Sturm geprägten Gymnasium in Straßburg, während die jungen Frauen Hedwig und Anna offenbar einen Großteil ihrer Jugend am Heidelberger Hof des konsensbereiten Kurfürsten Friedrich II. von der Pfalz verbrachten.
Es war dies das Erbe einer Regentin und Mutter an ihre Kinder zur vorausschauenden und zukunftsweisenden Gestaltung einer Politik, die der Friedenssicherung und Friedenswahrung dienen sollte. Den Höhepunkt dieser prinzipiellen Ausrichtung bildete ohne Zweifel die Teilung des Landes 1558 unter ihre drei Söhne Edzard, Johann und Christoph – eine Maßnahme, die das Land durch den darauf folgenden kompromißlosen Bruderzwist nach dem Tod des jüngsten Prinzen Christoph in eine tiefe innere Krise stürzte und scheinbar im Widerspruch stand zu dem von ihr favorisierten Weg.
Mit der Teilung des Landes etablierte sich aber in der Führung des Landes – in der gemeinsamen Verantwortung des vermeintlich lutherisch gesinnten Edzard und des reformierten Irenikers Johann – quasi jenes Konzept der Konfessionsneutralität. Neben dezidiert katholischer und entschieden lutherischer Option war dies der dritte Weg im Rahmen der Reformation und Konfessionalisierung im Reich – eine „via media“, der sich die Gräfin insbesondere durch den Einfluß ihres Bruders als Modell für eine friedliche Koexistenz von Luthertum und Reformiertentum in ihrem Land kompromißlos anzunähern versuchte.
Bis zu ihrem Tod 1575 hielt Anna an diesem Ziel fest und bewahrte sich von ihrem Witwensitz in Greetsiel ihre Autorität gegenüber den Beamten des Landes und auch gegenüber ihren streitenden Söhnen. Aber so sorgenvoll, wie die alte Gräfin den Zwist unter ihren Söhnen auch beobachtete und sich hoffnungsvoll immer wieder für eine Beilegung des Konflikts einsetzte: Anna beharrte auf ihre Entscheidung, beide Söhne mit der Herrschaft in Ostfriesland vom Kaiser belehnen zu lassen. Die Teilung des Landes war das ungeschriebene „politische Testament“ Annas, die konsequente Durchsetzung eines konfessionsneutralen Grafenstaates im Nordwesten des Reiches zu fördern. In der Charakterisierung der Gräfin Anna bildete dieses Prinzip einerseits den Rahmen für eine weitsichtige, auf die dynastische Zukunft des Grafenstaates ausgerichtete Politik, andererseits gewährte das beharrliche Festhalten daran aber auch keine Freiräume zur Weiterentwicklung und stand einer konsequenten Effektivierung und Modernisierung des Landes entgegen.
Heiko Ebbel Janssen