Auricher Regentenporträts: Ständesaal der Ostfriesischen Landschaft – "Schlösschen", Aurich
Edzard I., „der Große“, ist der weitaus bekannteste und populärste ostfriesische Landesherr aus dem Hause der Cirksena. Er war der zweite Sohn Ulrichs I. Cirksena, des (seit 1464) ersten Grafen „in Ostfriesland“, aus dessen Ehe mit Theda, einer Enkelin des Focko Ukena, und es muß offen bleiben, ob er überhaupt die Möglichkeit gefunden hätte, sich als „der Große“ zu entfalten, wäre seinem älteren Bruder Enno I. ein längeres Leben beschieden gewesen. Erst Ennos jäher Unfalltod 1491 machte den Jüngeren zur bestimmenden Kraft in der damals noch nicht durch die „Primogenitur“ geregelten ostfriesischen Landesherrschaft.
Über seine Jugend, seine Bildungsentwicklung wissen wir wenig. Wie lange, wie ernsthaft er das Studium des römischen Rechts („jus civile“) betrieb – 1481 wird er, gemeinsam mit seinem Bruder Uko, in die Matrikel der Universität Köln eingetragen – steht dahin; möglicherweise wirken auch Erinnerungen an diese Studienzeit in seinen späteren Bemühungen nach, friesische Rechtsüberlieferungen den Bedürfnissen des neueren Fürstenstaates anzupassen. Religiös, aber doch mindestens ebenso sehr von seinem adligen Selbstverständnis her motiviert war die „Pilgerfahrt“ nach Jerusalem, die er 1491 absolvierte, kurz nach der – alsbald von dessen tödlichem Unglück gefolgten – Rückkehr seines Bruders Enno von der gleichen Reise. Wie Enno, so ließ sich auch Edzard am Wallfahrtsziel zum „Ritter vom Heiligen Grabe“ schlagen: für den Abkömmling friesischer Häuptlinge auch ein Vorgang der adligen Selbstbestätigung.
Der gräfliche Herrschaftsraum in Ostfriesland hatte sich, als Edzard sein personales Zentrum wurde, noch keineswegs gefestigt; er war gleichsam noch in territorialer Bewegung begriffen. Als Ostfriesland galt noch der gesamte östliche, zwischen Ems und unterer Weser sich streckende Teil des friesischen Stammesgebietes – ursprünglich ohne Bezug auf seine politische Struktur und Gliederung. Doch Ulrich I. verstand ihn durchaus politisch, als er sich 1464 zum Grafen für den Bereich „von der Westeremse osterwards bis an die Weser“ erheben ließ, und ebenso interpretierte ihn Edzard als einen territorialen Zusammenhang, den in politische Wirklichkeit umzusetzen und zu beherrschen ihn die kaiserliche Belehnungsurkunde von 1464 berechtigte. Er hatte keine Probleme damit, sie durch eine Fälschung 1495 noch aussagekräftiger zu machen, und er bemühte sich dann 1495 bis 1497 mit Kriegszügen in das Jeverland und das Harlingerland, deren Häuptlinge, Edo Wiemken den Jüngeren von Jever und Hero Omken von Esens, zu vertreiben oder wenigstens seiner Herrschaft zu unterwerfen. Doch er scheiterte an ihrem Widerstand, an dem politischen Interesse, das benachbarte Regionalmächte – der Bischof von Münster, der Graf von Oldenburg, die Stadt Bremen – an ihrer Eigenständigkeit hatten, aber auch an der Bevölkerungsmehrheit des Jeverlandes wie des Harlingerlandes: Das Treueverhältnis zu den sie regierenden Häuptlingsdynastien bedeutete ihr mehr als die schönen Worte von friesischer Einheit, mit denen Edzard sie für sich zu gewinnen suchte. Erfolgreicher war er in der – häuptlingsfreien – friesischen Wesermarsch. Als sich dort die bäuerlichen Landgemeinden Butjadingens und des Stadlandes im Frühjahr 1500 gegen die Herrschaft des Grafen von Oldenburg erhoben, konnte Edzard sie, da sie des politischen und militärischen Rückhalts bedurften, zur Anerkennung seiner beschützenden Oberhoheit bewegen.
Gleichzeitig war er, in einer Verbindung von Selbstbehauptung und Machtexpansion, bestrebt, seinen Einfluß in den friesischen Landschaften westlich der Ems auszuweiten. 1498 hatte König Maximilian I. Herzog Albrecht „den Beherzten“ von Sachsen zum „ewigen Gubernator“ des Reiches in Friesland ernannt – mit einem Herrschaftsanspruch, der sich über das gesamte als friesisch geltende Nordseeküstengebiet erstreckte, also auch Ostfriesland einbezog. Edzard leistete dem Wettiner in der Tat den Lehnseid, unterstützte ihn und nach seinem Tode 1500 auch seinen Sohn Georg im westerlauwersschen Friesland und gegen die widerstrebende, mächtige, die „Ommelande“ zwischen Lauwers und Ems beherrschende Stadt Groningen, und er konnte auf diese Weise zunächst, seit 1499, Appingedam und das Oldambt unter seine Botmäßigkeit bringen. 1506 glückte es ihm sogar, in Abkehr von seinem bisherigen Bündnis mit Georg von Sachsen, sich zum Herrn auch der Stadt Groningen – die politisch und militärisch zu schwächen er zuvor emsig mitgeholfen hatte – und damit der gesamten Ommelande zu machen.
Ehrgeiz, Glück, Geschick, geistige Beweglichkeit, aber auch eine Sympathien gewinnende Ausstrahlung Edzards wirkten zusammen, daß er die um 1500 so unruhigen Verhältnisse westlich der Ems zu seinem Vorteil zu nutzen vermochte. Offenbar dachte er gar daran, seinen wettinischen Konkurrenten auch im westerlauwersschen Friesland überspielen und das gesamte Gebiet zwischen Zuidersee und Wesermündung mit seiner Herrschaft überspannen zu können. Sicher motivierten ihn dabei persönliches und dynastisches Macht- und Ehrbestreben weit mehr, als etwa ein friesisches Traditionsbewußtsein. Doch Edzards Ambitionen waren stärker als seine tatsächlichen politischen Möglichkeiten. Georg von Sachsen, von dem rechtswidrigen Griff des Grafen auf Groningen tief getroffen, brachte eine – vor allem dank der beteiligten Herzöge von Braunschweig-Lüneburg – überlegene Fürstenallianz gegen ihn zusammen und erreichte endlich auch, daß Maximilian I. 1513 die Reichsacht über ihn verhängte. Sie bot die Rechtsgrundlage für den Anfang 1514 in der Wesermarsch beginnenden Angriff gegen ihn: die sogenannte „Sächsische Fehde“. Edzard verlor sehr rasch Butjadingen und Stadland an die Welfen bzw. den Grafen von Oldenburg, konnte nicht verhindern, daß die welfischen Söldnerverbände anschließend mit Raub und Brand durch Ostfriesland zogen, und mußte noch im gleichen Jahr 1514 auch den Verlust von Groningen hinnehmen: das ihn am stärksten schmerzende Ereignis. Die Stadt hatte sich von ihm abgewandt, als seine militärische Schwäche offensichtlich wurde; sie ging zum Herzog Karl von Geldern über, den Edzard in seiner Not um Hilfe gebeten hatte, der aber die Bedrängnis des Grafen bedenkenlos nutzte, sich selbst zum Herrn Groningens und seiner Ommelande zu machen. In Ostfriesland wußte sich der Cirksena gegen die welfischen Vertreibungspläne nur durch seine politische Hinwendung zu den habsburgischen Herren der burgundischen Niederlande zu retten; an ihrer mächtigen Rückendeckung für Edzard scheiterten die friesischen Expansionshoffnungen der Herzöge von Braunschweig-Lüneburg.
Am Ende der „Sächsischen Fehde“, 1517, begrenzte sich des Grafen Herrschaft wieder auf den gleichen Raum wie 1491, als er sie angetreten hatte; nur, daß er jetzt – 1516 – erstmals genötigt war, Prälaten, Häuptlingsadel und „gantze lantschap van Oistfreslantt“ um eine finanzielle Unterstützung zu bitten: erstes Wetterleuchten der finanziellen Dauersorgen, die das Haus Cirksena später beschweren sollten. Nach dem Tode des Junkers Christoph von Jever 1517 war Edzard freilich rasch zur Stelle, um dessen drei Schwestern, darunter das „Fräulein“ Maria, seine Schutzherrschaft aufzudrängen. Sie blieb am Ende ebenso vorläufig wie seine Oberhoheit über das Harlingerland, die zu akzeptieren er den Junker Balthasar von Esens durch Feldzüge 1524 und 1525 zwang. Mißt man die Ergebnisse von Edzards ehrgeizigen Expansionsbestrebungen an seinen tatsächlichen Erfolgen, so ist er im Grunde gescheitert. Er hatte spätestens, als er sich 1506 mit einem erfundenen Rechtstitel zum Herrn von Groningen machte, seine Grafschaft auf sein kühnes Spiel gesetzt; aber bei seinen Untertanen überstrahlte der Ruhm, sie gegen eine Übermacht behauptet zu haben, alle Kritik. Er wußte, so hat es den Anschein, alle Schichten in seinem Lande zu faszinieren, den Häuptlingsadel ebenso wie die bäuerliche Bevölkerung. Ihr vermittelte er das Bewußtsein, daß er sie in ihren überkommenen Rechten und Freiheiten achte und schütze; sie dankte ihm diese Erfahrung mit anhaltender, schon von Zeitgenossen als erstaunlich registrierter Ergebenheit. Ihre Treue galt ihm, nicht etwa einer Idee von Ostfriesland; doch indem er die Loyalitäten aus den einzelnen Landesteilen auf sich zog, trug er wesentlich dazu bei, daß sich Empfindungen einer ostfriesischen Zusammengehörigkeit und Einheit allmählich ausbilden konnten.
In den Grenzen der Grafschaft, wie er sie 1491 übernommen hatte, wurde Edzard – mit Wirkungen bis weit in das 20. Jahrhundert – zu einem Symbol der ostfriesischen Regionalidentität. Natürlich lag ihm selbst eine solche Vorstellung noch fern; ihm ging es primär darum, Einkünfte, Herrschaftsmacht, Ehre seines Hauses zu steigern. Auf dieser Orientierungslinie bewegte sich auch sein Bemühen um die innere Ordnung und das wirtschaftliche Gedeihen seines Landes. Dabei handelte er zugleich – und ganz im Sinne der fürstenstaatlichen Entwicklungstendenz des Zeitalters – in dem Bewußtsein, daß es Sache der landesherrlichen Autorität sei, den ihr zugeordneten Menschen Maßstäbe des rechten Verhaltens zu setzen. Beispiele dafür sind unter anderem seine „Polizeiordnungen“, die er für Emden (1508) und wohl auch für Norden erließ. Emden förderte er überhaupt; es wurde unter ihm erst eigentlich zur Residenzstadt. Wie weit Edzards Regierungsmaßnahmen auf ihn selbst zurückgingen, welchen Anteil seine Berater an ihnen hatten, ist kaum auszumachen. Offenbar wußte er Ratschläge zu akzeptieren, ohne darüber an Führungsautorität einzubüßen. Seine Räte kamen überwiegend aus dem Häuptlingsadel; 1516 wurden sie geradezu, zwischen Prälaten und übrigem Adel – „Hovetluden“ -, als ständische Gruppe apostrophiert. Doch ihr Ratschlag für den Landesherrn beruhte auf ritterlicher Treuepflicht; grundsätzliche Gegensätze zwischen Ständen und Graf, wie sie seit dem späteren 16. Jahrhundert die politische Struktur Ostfrieslands bestimmen sollten, lagen in Edzards I. Jahren noch fern. Noch war das – sich freilich erst entwickelnde – ostfriesische Staatswesen ganz auf ihn als seine selbstverständliche Mitte orientiert.
Sein auf die Dauer gutes Verhältnis zum Adel seines Landes beruhte wohl auch darauf, daß er ihn in seinen „Herrlichkeiten“ weitgehend unangetastet ließ. Städtische Autonomieräume hielt er dagegen bewußt eng. So blieb auch das bürgerliche Gemeinwesen in Emden ganz und gar seiner Kontrolle, seinem Gebot unterworfen – wie er denn überhaupt empfindlich und hart reagieren konnte, wenn er seine Autorität verletzt glaubte. Es paßt – auch, wenn er damit einer allgemeineren Strukturtendenz entsprach – in sein Charakterbild, daß er in den früheren „Ländern“ des östlichen Friesland, diesen hochmittelalterlichen Organisationsformen der „friesischen Freiheit“, die von Ulrich I. übernommene, auf herrschaftliche Burgen bezogene, von herrschaftlichen Beamten und im Namen des Landesherrn ausgeübte Amtsverwaltung weiterentwickelte und so die verblaßten Traditionen genossenschaftlicher Autonomie in den „Ämtern“ vollends herrschaftlich überdeckte. Der im herrschaftlichen Interesse liegenden Vereinheitlichung des Landes galt auch seine Initiative zu einem zusammenfassenden ostfriesischen Landrecht, das ältere friesische Rechtsüberlieferungen in modifizierender Weise aufnehmen, dem römischen Recht öffnen, damit aktualisieren und den fürstenstaatlichen Gegebenheiten anpassen sollte. Sorge um die Einheit des ostfriesischen Territorialzusammenhangs gehörte schließlich zu den Motiven der „Primogeniturordnung“ Edzards von 1527; mit dieser Regelung der Herrschaftsnachfolge suchte er – wie man im Blick auf die späteren Auseinandersetzungen seiner Enkel Johann und Edzards II. weiß, wenigstens für deren Zeit vergeblich – dynastischen Herrschaftsteilungen vorzubeugen.
In Edzards späten Herrschaftsjahren – wohl ab 1520 – erreichte die Reformation Ostfriesland. Der Graf hat sich ihr nicht gesperrt, sie aber auch nicht zu seiner eigenen Sache gemacht; ihre ostfriesische Entwicklung ging weitgehend an ihm vorbei. Sie schuf schon bald Voraussetzungen für den späteren Konflikt zwischen Reformierten und Lutheranern: für eine konfessionelle Spaltung der Grafschaft, die Edzard nicht voraussehen konnte, die er aber durch seine kirchenpolitische Zurückhaltung mit vorbereiten half. Eggerik Beninga, der zeitgenössische Geschichtsschreiber, der fast ein Drittel seiner „Cronica der Fresen“ der Geschichte des Grafen widmete, sah ihn freilich noch als den eigentlichen Beginner der Reformation in Ostfriesland: gemäß seiner Vorstellung von Edzard als dem überragenden Zentrum und Beweger aller ostfriesischen Dinge in seiner Zeit. Die kräftigsten, lebhaftesten Farben für das Erscheinungsbild seines Helden gewann er aus dessen kriegerischen Unternehmungen, Bedrängnissen, Bewährungen; in ihnen leuchteten seine Tugenden, Mut, Risikobereitschaft, Einfallsreichtum, aber auch trotzige Beharrlichkeit in bitteren Situationen, besonders auf, und hier kam er wohl auch der Mentalität seiner bäuerlichen Untertanen am nächsten. Man konnte ihn allerdings, zumal aus der Distanz, auch anders, kritischer sehen; so bezeichnete ihn Herzog Heinrich der Mittlere von Lüneburg einmal als einen „Wolf“ – ein wildes, unberechenbares Tier, auf dessen Wort und Treue man nicht bauen dürfe. Er werde selbst „seine Jungen in der Not“ verlassen.
Edzards ostfriesische Lobredner, angefangen mit Beninga, rühmen vor allem seine öffentlich zutage getretenen, in Politik und Krieg wirksam gewordenen Tugenden. Über sein familiäres Verhalten erfahren wir nicht eben viel. Edzard heiratete 1498 die westfälische Grafentochter Elisabeth von Rietberg, Schwester des damaligen Bischofs von Münster. Er hatte mit ihr sieben Kinder, vier Töchter und drei Söhne. Da Ulrich, sein ältester Sohn, geistesschwach war, bestimmte Edzard 1527 den nächstälteren, Enno, zu seinem Nachfolger in der Landesherrschaft. Söhne und Enkel blieben hinter seinem Format zurück. Auch im vergleichenden Blick auf sie begann die ostfriesische Geschichtserinnerung seit dem späten 16. Jahrhundert, vor dem Hintergrund der politischen Krisen des Landes, Edzard I. als „den Großen“ zu verklären.
Heinrich Schmidt
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