„Er kannte kein Maß und keine Anmut“
– Ernst Kaeber: „Die Jugendzeit Fürst Enno Ludwigs von Ostfriesland“, Aurich 1911 –
Die Geschichte des regierenden Hauses Cirksena liest sich in der ostfriesischen Historiographie oft wie eine 280jährige Verfallszeit: Auf die Idealgestalten zu Beginn – Ulrich I., Theda, Edzard „der Große“ – folgen drei Generationen, die mehr oder weniger energisch die Probleme der Reformationszeit und des Ständekampfes anpacken – von Enno II. und Anna über ihre Söhne bis Enno III. Trotz der Katastrophe des Dreißigjährigen Kriegs werden Ulrich II., Juliane und deren Söhne als nur ihrem Genuss, dem Essen, Trinken, Lieben und Jagen verfallen beschrieben. Als ein Tiefpunkt gilt das unrühmliche Ende der Ambitionen für den ältesten Sohn, Enno Ludwig. Nach einem letzten absolutistisch-überspannten Aufbäumen Christine Charlottes läuft das Fürstenhaus in drei Generationen von kränklichen Pietisten aus und geht schließlich „an einem Glas Buttermilch“ zugrunde.
Das Buch des Monats beschäftigt sich trotzdem mit besagtem Enno Ludwig (1632-1660). In der Reihe „Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands“ erschien 1911 „Die Jugendzeit Fürst Enno Ludwigs von Ostfriesland“ von Ernst Kaeber. Der Autor, geboren 1882 in (Berlin-)Charlottenburg, studierte in Berlin und Königsberg Geschichte und wurde 1906 über ein Thema historischer Publizistik promoviert. Anschließend schlug er eine Laufbahn bei den Preußischen Staatsarchiven ein. Aurich wurde nach abgeschlossener Ausbildung einer seiner ersten Einsatzorte. Der junge Archivassistent aus Berlin arbeitete sich intensiv in die Geschichte Ostfrieslands ein und stieß dabei auf Enno Ludwig, der als Jugendlicher für zehn Jahre zur Ausbildung in die Niederlande, Frankreich und Italien geschickt worden war. Kaeber wertete nicht nur die in Aurich vorliegenden Berichte der Erzieher sowie amtliche und private Korrespondenzen für seine Untersuchung aus, sondern trug auch Material aus einer ganzen Reihe weiterer Archive für seine Darstellungen zusammen.
„Die Jugendzeit Fürst Enno Ludwigs von Ostfriesland“ beschreibt nicht nur die Reisen und Aufenthalte des Erbprinzen detailliert, sondern vermittelt anhand der Archivalien anschaulich Lebenssituationen, Beweggründe und Charaktere der beteiligten Personen. Immer wieder kommt Kaeber zu dem Schluss, dass die kostspielige Erziehung des Prinzen trotz allen Aufwands nur als Fehlschlag zu bezeichnen sei. Nach den Berichten der Erzieher zeigte Enno Ludwig keinerlei Benehmen, Interesse oder Einsicht, rüpelt, flucht, trinkt und isst unmäßig.
Wenn Kaeber Friedrich Wilhelm von Brandenburg, den späteren „Großen Kurfürsten“, als leuchtendes Gegenbild zu Enno Ludwig entwirft, mag das zunächst wie eine Marotte eines Berliners wirken, aber der zwölf Jahre ältere Hohenzollernprinz verbrachte ebenfalls vier Lehrjahre in Holland. Er und sein Land sollten enorm von seiner Zeit am Hof des Statthalters Friedrich Heinrich von Nassau-Oranien und seiner Frau Amalie von Solms-Braunfels profitieren. Das wirtschaftliche und kulturelle Klima in Holland und der Residenzstadt Den Haag war ein ganz anderes als in den vom Dreißigjährigen Krieg verwüsteten Regionen Deutschlands. Zwar waren auch die Niederlande Kriegspartei, aber zugleich erlebte das Land sein „Goldenes Zeitalter“ wirtschaftlicher Prosperität und politischen Erfolgs.
Das Statthalterpaar hatte sich eine beinahe königliche Stellung in der Republik der Niederlande erarbeitet und entfaltete einen barocken Herrschaftsstil, der sich z.B. in umfangreichen Aufträgen für repräsentative Architektur und Malerei äußerte. Auch eine ambitionierte Heiratspolitik gehörte mit zum Programm: Der einzige überlebende Sohn und Erbe wurde 1641 mit der ältesten Tochter des englischen Königs verheiratet, und auch die vier Töchter, die das Erwachsenenalter erreichten, sollten in bedeutende Fürstenhäuser einheiraten.
Angesichts dessen kann es erstaunen, dass die erste Verlobung einer Tochter, ebenfalls noch 1641, zwischen der jüngsten, erst vierjährigen Henriette Catharina und dem neunjährigen Enno Ludwig von Ostfriesland erfolgte. Für die Niederlande schien ein bleibender Einfluss an der Emsmündung möglicherweise ebenso vorteilhaft, wie die enge Verbindung mit dem mächtigen Nachbarn dem durch fremde Truppen bedrängten Grafen Ulrich II. am Herzen gelegen haben muss. Gleichzeitig begann die Bildungsreise Enno Ludwigs schon in Den Haag – und die Aussicht auf die Verbindung mit dem Haus Oranien-Nassau verlangte und rechtfertigte natürlich dieses kostspielige Projekt.
Sogleich mit der Verlobung wurde Enno Ludwig auch in das künstlerische Bildprogramm der niederländischen Herrscherdynastie einbezogen. Ein repräsentativer Kupferstich der Statthalter-Familie aus der Zeit vor der Verlobung hatte in der Mitte eine Amme mit der neugeborenen Jüngsten gezeigt. Die Neufassung setzte jetzt das kindliche Verlobungspaar ins Zentrum, gerahmt vom Statthalterpaar rechts und den älteren Kindern samt englischer Schwiegertochter links. Von Enno Ludwig und Henriette Catharina wurden auch diverse paarweise Stiche in verschiedenen Altersstufen erstellt. Ein repräsentatives Doppelporträt in höfischer Kleidung vor der Kulisse der Emder Burg existiert ebenso wie eine allegorische Abwandlung davon, die die beiden als Schäferpaar darstellt. Der erwachsene Enno Ludwig bekam dann sogar einen festen Platz im Sammelporträt der verstorbenen und lebenden Mitglieder des Hauses Oranien-Nassau – gleichrangig mit den Fürsten, die mittlerweile die älteren Schwestern seiner Verlobten geheiratet hatten, mit Wilhelm Friedrich von Nassau-Dietz und Friedrich Wilhelm von Brandenburg, dem „Großen Kurfürsten“. Henriette Catharina wird auch in allen ihren Einzelporträts als Verlobte oder sogar schon als Ehefrau Enno Ludwigs bezeichnet.
1648 starb Ulrich II. und der Prinz wurde sein Nachfolger, auch wenn der Auslandsaufenthalt zunächst andauerte. Erst drei Jahre später kehrte Enno Ludwig nach Ostfriesland zurück, entmachtete handstreichartig die in seinem Namen regierende Mutter und ließ sogar deren Liebhaber hinrichten. Auch jetzt kam es noch nicht zur Eheschließung mit Henriette Catharina. Letztlich scheiterte die Verlobung endgültig 1655 nach mehr als 14 Jahren – an der Abneigung Henriette Catharinas, aber auch am Desinteresse und mangelndem Engagement Enno Ludwigs. Die jetzt 17jährige Oranierin wollte lieber sterben als den in ihren Augen ungehobelten (und korpulenten) Ostfriesen zu heiraten. Außerdem hatte sie sich in den Bruder ihrer englischen Schwägerin verliebt, der nach dem Bürgerkrieg und der Hinrichtung seines Vaters in Den Haag im Exil weilte. Der gutaussehende Prinz Karl Stuart von England hielt auch um ihre Hand an, aber die verwitwete Mutter Amalie lehnte eine Ehe mit dem späteren Karl II. ab, da zu der Zeit keine Aussicht auf eine Rückkehr der Stuarts auf den Thron bestand.
Ganz und gar unintelligent und unerträglich kann Enno Ludwig nach seiner zehnjährigen Bildungsreise aber nicht mehr gewesen sein. Als er sich vor der Rückkehr nach Ostfriesland für einige Zeit am kaiserlichen Hof in Wien aufhielt, konnte er die Gunst Kaiser Ferdinands III. gewinnen. Dieser ernannte ihn zum Reichshofrat, womit er dann auch vorzeitig für volljährig erklärt wurde und 1651 die Regentschaft als Graf von Ostfriesland übernehmen konnte. Drei Jahre später gelang es ihm als erstem Cirksena, die Reichsfürstenwürde zu erlangen, auch wenn die einhellige Meinung der Historiker dazu ist, dass diese Standeserhöhung kein wirklicher Gewinn war. 1660 fiel Fürst Enno Ludwig einem Jagdunfall zum Opfer. Da er ohne männliche Erben verstarb, trat sein Bruder Georg Christian die Herrschaft in Ostfriesland an.
Henriette Catharina heiratete später doch noch einen Fürsten – Georg II. von Anhalt-Dessau. Maßgeblich durch ihre Beteiligung entwickelte sich dieses Fürstentum politisch und wirtschaftlich sehr vorteilhaft und blieb dem „verschwägerten“ Brandenburg-Preußen eng verbunden. Die deutsch-niederländische Ausstellung „Onder den Oranje Boom“ hat 1999 den Entwicklungsschub der vier ehelich mit den Oranierinnen verbundenen deutschen Fürstenhäuser eindrucksvoll vor Augen geführt. So befinden sich heute ein Welterbe-Park und Schloss Oranienbaum eben bei Dessau und nicht bei Aurich. Man kann Kaeber sicherlich zustimmen, wenn er das Scheitern der Verlobung Enno Ludwigs mit Henriette Catharina von Nassau-Oranien als vertane Chance für Ostfriesland bedauert.
Ernst Kaeber, der Autor der „Jugendzeit“ wurde nach seinen „Wanderjahren“ in Aurich, Düsseldorf und Magdeburg 1913 Leiter des Berliner Stadtarchivs und hat dieses in den folgenden Jahrzehnten entschieden modernisiert und professionalisiert. In der Zeit des Nationalsozialismus von 1937-1945 zwangspensioniert, ging er erst 1955 mit fast 73 Jahren nach über 34 Jahren Leitungstätigkeit in Ruhestand. Weil er 1937 die Scheidung von seiner jüdischen Frau verweigert hatte und ihr damit das Leben rettete, bekam er den jüdischen Ehrentitel „Gerechter unter den Völkern“.
Die Landschaftsbibliothek hat innerhalb des öffentlich zugänglichen Online-Bestandes des Rijksmuseums Amsterdam eine Sammlung zu Enno Ludwig und Henriette Catharina angelegt. Außerdem veröffentlichen wir in einer wöchentlichen Serie die Artikel über das Haus Cirksena aus dem biographischen Lexikon für Ostfriesland in Kombination mit den Regentenporträts aus dem Ständesaal und weiteren Bildnissen.
Hanke Immega
Familienporträt:
F. van Beusekom, 1642 – Österreichische Nationalbibliothek Wien (Enno Ludwig und Henriette Catharina im Kreis der Mitglieder des Hauses Oranien-Nassau)