Ein elisbethanischer Klassiker in Ostfriesland
– Philip Sidney: L’Arcadie de la Comtesse de Pembrok, Paris 1625 –
Die Landschaftsbibliothek bewahrt in ihrem Bestand einen kleinen Schatz: ein Exemplar von Philip Sidneys berühmtem Prosaroman „The Countess of Pembroke’s Arcadia“ in französischer Übersetzung. Diese erschien 1625 in Paris unter dem Titel „L’Arcadie de la Comtesse de Pembroke“. Das Auricher Exemplar – eines von nur zwei überlieferten in Niedersachsen – liegt in einem Band vor, der die ersten beiden Teile vereint.
Die „Arcadia“ gilt als eines der ambitioniertesten literarischen Werke des elisabethanischen Englands. Sidney, am 30. November 1554 auf Penshurst Place in der Grafschaft Kent geboren, entstammte einer der einflussreichsten Familien seiner Zeit. Der junge Mann wurde auf den Namen des spanischen Königs Philipp II. getauft, der als sein Pate fungierte. Seine Erziehung entsprach dem humanistischen Bildungsideal der Renaissance: Nach dem Besuch der Shrewsbury School studierte er in Oxford und Cambridge sowie an einer Londoner Rechtsschule, bevor er im Alter von siebzehn Jahren zu einer dreijährigen Bildungsreise auf den Kontinent aufbrach. In Paris erlebte er im August 1572 das Massaker an den Hugenotten, das Tausende Protestanten das Leben kostete und seinen Einsatz für die protestantische Sache in Europa festigte.
Nach seiner Rückkehr nach England 1575 gewann Sidney die Gunst Königin Elisabeths. Zwei Jahre später entsandte sie ihn als Botschafter an die Höfe des Kaisers Rudolf II. und des pfälzischen Kurfürsten, um die Möglichkeiten eines protestantischen Bündnisses gegen die Mächte der Gegenreformation auszuloten. Von diesem Projekt überzeugt, setzte sich Sidney zeitlebens für die Sache der niederländischen Aufständischen gegen Spanien ein.
Die Jahre um 1580 verbrachte Sidney vorwiegend auf Wilton House, dem Landsitz seines Schwagers, des Earl of Pembroke. In dieser Phase intensiver literarischer Arbeit entstanden seine bedeutendsten Werke. Die Entstehungsgeschichte der „Arcadia“ ist dabei ungewöhnlich komplex: Sidney begann vermutlich Ende der 1570er Jahre mit einer ersten Fassung, die er nach eigener Aussage lediglich zur Unterhaltung seiner Schwester schrieb. Diese Version – heute als „Old Arcadia“ bezeichnet – ist chronologisch erzählt und durch Gedichtzyklen zwischen den einzelnen Büchern gegliedert. Wahrscheinlich vollendete Sidney diese Fassung während eines Aufenthalts auf dem Landsitz seiner Schwester im Jahr 1580, als er vorübergehend bei Hofe in Ungnade gefallen war.
In den folgenden Jahren überarbeitete und erweiterte Sidney das Werk grundlegend. Er schrieb die Handlung um und fügte neue Episoden hinzu, darunter die Geschichte des gerechten Rebellen Amphialus. Diese Ergänzungen verdoppelten den Umfang des ursprünglichen Textes. Allerdings konnte Sidney die Überarbeitung vor seinem Tod nicht mehr abschließen. Die „New Arcadia“ verbindet pastorale Elemente mit Motiven aus dem hellenistischen Roman: Eine idealisierte Darstellung des Hirtenlebens steht neben Geschichten von Ritterturnieren, politischen Intrigen, Entführungen, Schlachten und Gewaltexzessen. Die Erzählstruktur folgt dem griechischen Modell, sodass die Geschichten ineinander verschachtelt sind und sich verschiedene Handlungsstränge kunstvoll miteinander verweben.
Neben der „Arcadia“ entstanden in jenen Jahren auch die Sonettsammlung „Astrophel and Stella“, inspiriert von Sidneys unerfüllter Liebe zu Penelope Devereux, sowie die einflussreiche Poetik „An Apology for Poetry“. In diesen Werken verband Sidney klassische Vorbilder mit den Formen der italienischen Renaissance und schuf damit Grundlagen für die englische Literatur der folgenden Jahrzehnte. 1583 heiratete er Frances Walsingham, die Tochter des mächtigen Staatssekretärs und Geheimdienstchefs der Königin.
Als Königin Elisabeth 1585 englische Truppen zur Unterstützung der niederländischen Rebellen entsandte, erhielt Sidney das Amt des Gouverneurs von Vlissingen. Im Sommer 1586 führte er einen erfolgreichen Überfall auf spanische Stellungen durch. Doch am 22. September desselben Jahres wurde er bei der Schlacht von Zutphen durch eine Kugel am Oberschenkel schwer verwundet. Man brachte ihn nach Arnheim, wo er zunächst Hoffnung auf Genesung schöpfte, doch der Wundbrand war nicht mehr aufzuhalten. Am 17. Oktober 1586 starb Philip Sidney erst 31-jährig. Sein Leichnam wurde nach England überführt und am 16. Februar 1587 in der Saint Paul’s Cathedral mit einem Staatsbegräbnis beigesetzt.
Sidney galt seinen Zeitgenossen als Verkörperung des Renaissance-Ideals: ein Höfling von vollendeten Manieren, ein tapferer Soldat, ein großzügiger Kunstmäzen, ein Förderer der Wissenschaften, ein Dichter von europäischem Rang. Sidneys früher Tod auf dem Schlachtfeld vollendete das Bild und machte ihn zur Legende. Sein zu Lebzeiten nur im Manuskript verbreitetes Werk wurde nach seinem Tod gedruckt und prägte die englische Literatur nachhaltig. Nach Sidneys Tod erschien 1590 eine Edition der „Arcadia“, die mitten in einer Szene abbricht. 1593 veröffentlichte seine Schwester selbst eine Ausgabe, in der sie die ursprüngliche Fassung zur Ergänzung und zum Abschluss der überarbeiteten Teile heranzog. Spätere Editionen – insbesondere die fünfte Auflage von 1621 – versuchten die Lücken zwischen den beiden Fassungen zu schließen. Diese dürfte auch der hier besprochenen Übersetzung zugrunde gelegen haben.
Das Werk erfreute sich über mehr als ein Jahrhundert großer Beliebtheit und regte zahlreiche Nachahmungen und Fortsetzungen an. William Shakespeare entlehnte der „Arcadia“ den Gloucester-Handlungsstrang für seinen „King Lear“; auch in „Hamlet“ lassen sich Spuren von Sidneys Einfluss nachweisen.
Dass Sidneys Werk auch in Ostfriesland rezipiert wurde, belegt das Auricher Exemplar. Es gehört zur Sammlung des preußischen Regierungspräsidenten Christoph Friedrich von Derschau (1717-1799), der ab 1751 in Aurich amtierte und eine bedeutende Privatbibliothek aufbaute, die heute zu den wertvollsten Altbeständen der Landschaftsbibliothek zählt. Dass Derschau gerade die französische Ausgabe erwarb, fügt sich in seine ausgeprägte Vorliebe für den französischen Klassizismus und die Aufklärung – die romanische Literatur bildet einen der größten Schwerpunkte innerhalb seiner Sammlung.
Auch wenn es keine direkten, nachweisbaren Verbindungen zwischen Philip Sidney, seinem Werk oder seiner Rezeption und Ostfriesland gibt, lassen sich dennoch über den konfessionellen und politischen Kontext Verbindungslinien spannen. Gerade die Rolle Emdens als calvinistisches Zentrum, von wo aus sich enge Kontakte zu englischen Protestanten entwickelten, steht hier im Mittelpunkt. Sidney selbst pflegte intensive Beziehungen zu Humanisten in Leiden und anderen niederländischen Städten. Die niederländisch-englischen Beziehungen und die gegensätzlichen Bündnispolitiken – England und die Niederlande gegen Spanien und dessen ostfriesischen Bündnispartner Edzard II. – bilden einen Rahmen, in dem Sidney als Symbolfigur des protestantischen Kampfes verortet werden kann.
Heiko Suhr















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