Wübbe Ulrichs Jütting (1825-1890)
– Vom ostfriesischen Bauernsohn zum preußischen Reformpädagogen –

Wenn im November 2025 der zweihundertste Jahrestag der Geburt Wübbe Ulrichs Jüttings begangen wird, erinnert man sich weit über Ostfriesland hinaus an einen Reformpädagogen, dessen Kampf gegen die Existenznot der Volksschullehrer und für die Professionalisierung des Lehrerstands nichts von seiner historischen Bedeutung verloren hat.
Wübbe Ulrichs Jütting wurde am 9. November 1825 in Holte geboren und wuchs in einem kleinbäuerlichen Elternhaus in ausschließlich plattdeutscher Umgebung auf. Seine ersten Schulerfahrungen waren durch sprachliche Barrieren geprägt, da in der Dorfschule ausschließlich auf Hochdeutsch unterrichtet wurde. Diese frühe Erfahrung sollte sein späteres pädagogisches Wirken nachhaltig prägen.
Trotz widriger Umstände bildete sich Jütting autodidaktisch weiter. Der vorgeschlagene Gymnasialbesuch scheiterte an den finanziellen Möglichkeiten der Familie. Stattdessen bereitete er sich durch eigenständiges Lernen auf den Lehrerberuf vor. Zwei Theologiekandidaten förderten ihn in Deutsch, Latein und Französisch. Bereits mit 15 Jahren verwaltete er vertretungsweise eine Lehrerstelle für 120 Schüler.
Nach ersten Stellen in Pogum und Schatteburg übernahm er 1848 die Position als Lehrer, Organist und Küster in Marienhafe. In seinen frühen Berufsjahren veröffentlichte Jütting erste Aufsätze und fand in Hinrich Janssen Sundermann einen wichtigen Mentor. 1853 erhielt er aufgrund seiner Privatstudien eine Anstellung als Gymnasiallehrer in Aurich, wo er sich 1858 auch die Befähigung für den fremdsprachlichen Unterricht erwarb.
In dieser Auricher Zeit wurde Jütting auch vom Auricher Kammerkonsulent und Rat Cirk Heinrich Stürenburg um Unterstützung bei der Herausgabe des „Ostfriesischen Wörterbuches“ gebeten, das 1857 erscheinen sollte. Dieses älteste ostfriesische Wörterbuch steht heute zwar im Schatten der danach erschienenen Lexika, ist aber als große Pionierleistung zu würdigen. Unterstützt wurde Stürenburg in seiner fast exzessiven Sammeltätigkeit von Auricher Freunden, Beamten und Lehrern aus dem ostfriesischen Regierungssitz. Jütting ist hier federführend zu nennen, da er das Werk einer kritischen Revision unterzog und etliche – später oft kritisierte – Etymologien hinzufügte. Als Stürenburg 1857 schwer erkrankte, sorgte Jütting schließlich auch für die Drucklegung.
Mit 39 Jahren nahm Jütting ein reguläres Universitätsstudium in Göttingen auf, wurde 1865 promoviert und legte das philosophische Staatsexamen ab. 1866 wählte er die Aufgabe, als Direktor die Bürgerschule in Einbeck aufzubauen. Sein Wahlspruch „In der Volksschule muß es Licht werden!“ prägte sein dortiges Wirken. 1873 wurde er zum Seminarlehrer in Eisleben, 1876 zum Seminardirektor in Erfurt ernannt. 1881 erhielt er vom Kaiser den Roten Adlerorden vierter Klasse verliehen.
Als Hauptproblem der Volksschulbildung identifizierte Jütting die ungenügende Bezahlung und das fehlende gesellschaftliche Ansehen der Volksschullehrer. Er wurde zu einem führenden Wortführer der preußischen Lehrerschaft und verfasste die bedeutsame Denkschrift „Die ungenügende Besoldung der preußischen Volksschullehrer“, die zwischen 1866 und 1878 in sechs Auflagen erschien.

Im Jahr 1872 gab Jütting eine bemerkenswerte Schrift heraus, die hier als Buch des Monats gewürdigt werden soll: „Der 32jährige Lebenskampf eines ostpreußischen Volksschullehrers“ stellt ein eindringliches sozialgeschichtliches Dokument dar, das die prekären Lebensverhältnisse schonungslos offenlegt.
Der Protagonist ist kein fiktiver Charakter, sondern ein realer ostpreußischer Lehrer, der seine Leidensgeschichte selbst verfasst hat. Geboren 1819 in Königsberg, durchlebt er eine Odyssee des Elends. Sein Anfangsgehalt betrug nur 69 Taler, wovon lediglich zehn Taler in bar ausgezahlt wurden. Der Lehrer musste als Landwirt überleben, wird beschrieben, wie er Gräben aushebt, Mist auf die Felder trägt, bei Regen und Kälte Getreide auf der Handmühle mahlt.
Besonders tragisch ist die Familiengeschichte. Von seinen Kindern überleben nur wenige das Kleinkindalter. 1858 sterben binnen drei Wochen zwei Kinder an Diphtherie, 1864 rafft der „Hungertyphus“ weitere Familienmitglieder dahin. Die Schrift liefert präzise Berechnungen: In den ersten elf Jahren summiert sich das Jahreseinkommen auf durchschnittlich 18 Taler für eine siebenköpfige Familie. Selbst nach einer Gehaltserhöhung 1851 auf 121 Taler blieb die Familie in bitterer Armut gefangen.
Das Nachwort aus Jüttings Feder wird durch statistische Belege untermauert: In Königsberg hatten 1864 von 1.394 evangelischen Landlehrern 297 zwischen 100-125 Taler Gehalt bezogen, also weit unter dem Existenzminimum. Die Gehälter waren seit 1820 nur um knapp vierzig Prozent gestiegen, während die Lebenshaltungskosten sich mehr als verdoppelt hatten. Jütting schließt mit der Bemerkung, dass die Not des anonymen Lehrers keine Einzelerscheinung sei, sondern besonders in den östlichen Provinzen Preußens symptomatisch für die gesamte Lehrerschaft.
1884 zwangen ihn gesundheitliche Probleme zum Ruhestand. Er zog nach Burg bei Magdeburg und verstarb dort am 20. Juli 1890. Seine letzten Worte bezeugen seine lebenslange Verbundenheit mit dem Lehrerstand: „Grüßen Sie meine Freunde, die Lehrer, und sagen Sie ihnen, dass, wie ich ihrer immer gedacht habe, ich ihrer auch gedenken werde in Ewigkeit.“ Jütting wurde in Erfurt bestattet, wo seit 1895 ein großes Denkmal an ihn erinnert.
Wübbe Ulrichs Jütting verkörpert den bemerkenswerten sozialen Aufstieg eines ostfriesischen Bauernsohns zum einflussreichen Reformpädagogen des 19. Jahrhunderts. Als Kämpfer für die Professionalisierung des Lehrerstands und Verfechter moderner pädagogischer Methoden prägte er die Entwicklung des preußischen Schulwesens nachhaltig.
Heiko Suhr















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