• Fridrich Arends: Karte von den in den Sturmfluten vom 3., 4., 5. Februar 1825 überschwemmten Küstenländern an der Nordsee
  • Fridrich Arends: Gemählde der Sturmfluthen vom 3. bis 5. Februar 1825 - Titelblatt

Buch des Monats März 2025

Arends: Gemählde der Sturmfluthen vom 3. bis 5. Februar 1825

Fri[e]drich Arends, Gemählde der Sturmfluthen vom 3. bis 5. Februar 1825

– Bremen 1826 –

Fridrich Arends: Gemählde der Sturmfluthen vom 3. bis 5. Februar 1825 - Titelblatt

Vor fast zweihundert Jahren erschien mit Friedrich Arends‘ akribischer Dokumentation der verheerenden Nordsee-Sturmflut vom Februar 1825 eine der ersten empirischen Studien zu einer Naturkatastrophe im deutschsprachigen Raum. Autor und Werk sind hierbei auf ganz besondere Weise miteinander verknüpft.

Friedrich Arends (1782-1861) war ein ostfriesischer Geograph, Wirtschaftswissenschaftler und Kulturhistoriker, der trotz des frühen Verlusts des Gehörs und verschiedener wirtschaftlicher Rückschläge bedeutende wissenschaftliche Werke verfasste. 1825 fand er in einer schwierigen wirtschaftlichen Lage eine sichere, wenn auch bescheidene Anstellung als Bürogehilfe in der Königlichen Landdrostei in Aurich. Aufgrund eines sich verschlimmernden Augenleidens gab er 1833 diese Anstellung auf und wanderte mit seinen drei Kindern nach Nordamerika aus, kehrte jedoch später nach Ostfriesland zurück, bevor er schließlich erneut nach Amerika ging, wo er 1861 verstarb.

Seine wissenschaftlichen Arbeiten sind bis heute wertvoll geblieben, obwohl er unter Zeitgenossen wissenschaftlich kaum anerkannt war. So schrieb ein Autor im Emder Jahrbuch zwanzig Jahre nach Arends‘ Tod, er gehöre „zwar nicht zu den bedeutendsten und einflussreichsten ostfriesischen Schriftstellern, aber sicher zu den fleißigsten und merkwürdigsten“. Arends verstand es aber in seinem Gesamtwerk, der bis dahin überwiegend historisch ausgerichteten landeskundlichen Forschung in Ostfriesland durch eine stärkere naturwissenschaftliche und wirtschaftswissenschaftliche Betrachtung neue Impulse zu verleihen.

Sein 1826 erschienenes Werk „Gemählde der Sturmfluthen vom 3. bis 5. Februar 1825“ stellt ein bis heute gültiges Standardwerk dar, das sowohl als administrative Bestandsaufnahme als auch als kulturgeschichtliches Zeugnis gelesen werden kann. Bemerkenswert ist vor allem die Zeitnähe der Publikation zum eigentlichen Ereignis – die verheerende Sturmflut hatte sich erst im Februar des Vorjahres ereignet. Dies verleiht dem Werk eine unmittelbare Aktualität und einen dokumentarischen Charakter. Dementsprechend erschien bereits 1837 eine Übersetzung ins Niederländische und Ende des 20. Jahrhunderts ein Nachdruck des Originals von 1826.

Arends‘ Arbeit zeichnet ein umfassendes Bild einer der schwersten Naturkatastrophen des 19. Jahrhunderts. Die Sturmflut vom Februar 1825 betraf einen außergewöhnlich großen Küstenabschnitt der Nordsee und forderte etwa achthundert Menschenleben. Mit einem Gesamtschaden von 16 Millionen Reichstalern auf 151 Quadratmeilen Fläche war sie wirtschaftlich verheerend, wenn auch in der Zahl der Todesopfer deutlich weniger dramatisch als bei der Flut von 1717 mit ihren über 11.000 Opfern. In Ostfriesland starben elf Menschen, weit über eintausend Gebäude wurden zerstört, zehn Deichdurchbrüche sind dokumentiert und rund 97 Kilometer Deich wurden in Mitleidenschaft gezogen.

Fridrich Arends: Karte von den in den Sturmfluten vom 3., 4., 5. Februar 1825 überschwemmten Küstenländern an der Nordsee
Fridrich Arends: Charte von den in den Sturmfluthen vom 3. 4. 5. Febr. 1825 ueberschwemten Kuestenlaendern an der Nordsee (Bild mit Link zum Digitalisat der Landesbibliothek Oldenburg)

Besonders wertvoll ist das Werk durch seinen quellenbasierten Ansatz. Der Autor hatte, wie er im Vorwort erklärt, Zugang zu staatlichen Quellen, „die nicht jedem fließen“. Er konnte als Angestellter alle Akten der Königlichen Landdrostei zu Aurich einsehen. Diese privilegierte Position erlaubte ihm eine detaillierte Darstellung, die weit über journalistische Berichte hinausgeht, die sonst zum Thema erschienen.

Die klare Gliederung des Werkes zeugt von einem durchdachten methodischen Ansatz. Im ersten Abschnitt erfolgt eine allgemeine Beschreibung der Sturmfluten, die naturwissenschaftliche Beobachtungen mit historischen Vergleichen verbindet. Der zweite Abschnitt liefert eine detaillierte Beschreibung der Sturmschäden. Diese Systematik erlaubt einen präzisen Überblick über das Ausmaß der Zerstörung – von völlig zerstörten Häusern bis hin zu ertrunkenem Vieh und vernichteten Ernten.

Die Unterstützung der Hilfsbedürftigen, die Arends im dritten Teil zusammenfasst, zeichnet ein faszinierendes Bild der damaligen Hilfssysteme. Von spontaner Nachbarschaftshilfe über lokale „Hülfs-Vereine“ bis hin zu staatlich koordinierten Maßnahmen wird das gesamte Spektrum der Katastrophenbewältigung dargestellt.

Viertens beschreibt Arends die Wiederherstellung der Deiche, die nicht nur als technische Herausforderung, sondern auch als gesellschaftliche Aufgabe beschrieben wird, bei der Strafgefangene, Militärpferde und freiwillige Arbeiter gemeinsam eingesetzt wurden.

Im abschließenden Abschnitt nimmt der Autor dann eine wissenschaftliche Betrachtung des nachteiligen Einflusses von Seewasser auf die Fruchtbarkeit des Landes vor, die den landwirtschaftlichen Langzeitfolgen der Überflutung Rechnung trägt. Auch hier wird wieder deutlich, wie sehr Arends in diesem besonderen Falle – der Gedanke zieht sich aber durch sein gesamtes Werk – über übliche historische Beschreibungen hinaus zu gehen gedachte und eben auch Wirtschaftsgeschichte und naturwissenschaftliche Erkenntnisse mit der Historie zu verbinden versuchte.

Gleichzeitig vermeidet der Autor eine sensationalistische Darstellung individueller Schicksale. Er erklärt bewusst, dass er nicht „alle Beispiele von Errettung, Angst, Not und Kummer“ nennen wolle, da „die Schicksale oft gleich“ seien. Stattdessen konzentriert er sich auf repräsentative Fälle und quantifizierbare Daten.

In einer Zeit des Klimawandels und steigender Meeresspiegel gewinnt Arends‘ Werk neue Relevanz. Es bietet nicht nur einen historischen Referenzpunkt für heutige Küstenschutzmaßnahmen, sondern auch wertvolle Einblicke in vergangene Katastrophenbewältigungsstrategien. Die akribisch dokumentierten Deichbaumaßnahmen und die beschriebenen Solidaritätsnetzwerke des frühen 19. Jahrhunderts können auch für die moderne Krisenbewältigung lehrreich sein. Als methodisch durchdachtes, quellengesättigtes Dokument vermittelt es einen tiefen Einblick in die Naturgewalten und ihre Auswirkungen auf die menschliche Gesellschaft. Die nüchterne, faktenorientierte Darstellung macht es zu einer wertvollen Quelle für die Umwelt-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte des norddeutschen Küstenraums und verdient in Zeiten zunehmender Klimaextreme eine Wiederentdeckung als frühes Beispiel einer umfassenden Katastrophendokumentation und -analyse.

Heiko Suhr

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