Aus der Wiege der Drucktechnik: Der älteste Inkunabeldruck der Landschaftsbibliothek Aurich aus dem späten 15. Jahrhundert
– Anton Koberger, Biblia latina (Locus libro[rum] numerus dinoscitur ordo), Nürnberg 1480 –
Im Jahr 1480 ließ der Nürnberger Drucker Anton Koberger bereits in sechster Auflage eine lateinische Bibel in seiner Nürnberger Werkstatt herstellen. Eine dieser „Biblia latina“ befindet sich im Bestand der Landschaftsbibliothek Aurich. Das Buch beeindruckt nicht nur äußerlich durch seinen dicken dunkelbraunen Ledereinband mit filigranen Blindprägungen und seine schieren Ausmaße (ca. 41 x 30 cm), sondern es ist zugleich die älteste Inkunabel der Landschaftsbibliothek. Als solche ist die „Biblia latina“ ein eindrucksvolles Zeugnis und Anschauungsobjekt für die frühe Drucktechnik, die stilistisch zwar noch stark den mittelalterlichen Handschriften verhaftet war, in ihrer gewerblichen Organisation und Produktion aber bereits stellvertretend für die Medienrevolution des 15. und 16. Jahrhunderts stand.
Anton Koberger (* ca. 1440/1450; + 1513), Sohn des vermögenden Nürnberger Bäckermeisters Heinrich Koberger, ist erstmals ab 1470/1471 als Drucker nachweisbar. In seiner Nürnberger Werkstatt führte er zu dieser Zeit den Buchdruck mit beweglichen Lettern ein, der wenige Jahrzehnte zuvor entwickelt worden war. Die Reichsstadt Nürnberg, ein politischer und wirtschaftlicher Zentralort des Reiches, bot ideale Standortbedingungen für die Produktion und den Vertrieb von Druckerzeugnissen. Neben den Papiermühlen des Umlandes verfügte die Stadt über eine kauffreudige Oberschicht und war zugleich in ein europaweites Handelsnetz eingebunden. Koberger nutzte diese günstigen Voraussetzungen erfolgreich, baute seine Druckerei zu einem manufakturähnlichen Großbetrieb aus, gründete weitere Standorte in Europa und stieg zur Koordinierung des Vertriebs selbst in das Verlagswesen ein. Ihm gelang es, die technischen Möglichkeiten der Zeit zu nutzen und zugleich den Sehgewohnheiten und differenzierten Wünschen seiner Kunden gerecht zu werden.
Die frühen Drucker des 15. Jahrhunderts waren mit eben jenen Sehgewohnheiten und Vorlieben konfrontiert, die noch stark von den Charakteristika mittelalterlicher Handschriften bestimmt waren. Ihre Werke werden von der Forschung als Inkunabeln bezeichnet, da sich die Drucktechnik zu diesem Zeitpunkt noch in der Wiege ihrer Entwicklung befand (incunabula (lat.) = Windeln, Wiege). Der Druck mit beweglichen Lettern ermöglichte erstmals, Bücher innerhalb kürzester Zeit in hoher Auflage zu produzieren. Entsprechend des vertrauten Layouts der vorherrschenden Manuskriptkultur wurde der Text anfangs noch zweispaltig gedruckt, während Illustrationen mithilfe eines Holzstocks hinzugefügt und Initialen am Kapitelbeginn, Hervorhebungen oder Kolorierungen nachträglich von Malern per Hand ausgeführt wurden. Dieser Befund spiegelt sich auch in der ersten Seite der „Biblia latina“ aus dem Bestand der Landschaftsbibliothek wider: Während der maschinelle Druck des Textes bereits deutlich zu erkennen ist, wurden farbige Hervorhebungen und florale Verzierungen sowie eine aufwendig gestaltete, mit Goldfarben versehene Initiale manuell ergänzt. Als Relikt der Manuskriptkultur ist der Initiale überdies ein sogenanntes „Incipit“ vorangestellt. Diese ersten Worte des Textes dienten vormals zur Identifizierung eines Werkes, da Titelblätter noch fehlten. Insgesamt erstreckt sich der zweispaltig gedruckte Bibel-Text auf 461 bedruckte und foliierte Blätter, die durch ein vorangestelltes Inhaltsverzeichnis („Locus librorum numerus dinoscitur ordo“) erschlossen werden. Das Werk endet mit der taggenauen Datierung des Drucks, der Nennung des Druckortes sowie des Druckers Anton Koberger, der bei dieser Gelegenheit sein äußerst fleißig betriebenes Gewerbe rühmt. Auf einem anschließenden, unbedruckten Blatt wurde auf der Vorder- und Rückseite überdies handschriftlich eine Liste der sonntäglichen Evangelien und Episteln für das gesamte Jahr notiert.
Eingefasst ist das Werk in einen Ledereinband, der mit Linienmustern, Einzelstempeln und Rollenstempeln verziert ist. Zu erkennen sind Kopfmedaillons, Rankenwerk und Pflanzenmotive sowie menschliche Figuren und biblische Szenen. Auf der Vorderseite prangt zudem die Datierung „Anno 1550“. Das Werk dürfte folglich ungebunden verkauft worden zu sein, wie es typisch für die frühen Drucke war.
Das Datum auf dem Einband passt zu einem handschriftlichen Vermerk im Buch. In lateinischer Sprache gibt sich hier – inmitten von ebenfalls handgeschriebenen Auszügen aus der Bibel sowie aus Werken der Kirchenväter – ein „Engelbertus Elckmann“ als Besitzer („possessor“) der Bibel zu erkennen, der diese im Jahr 1550 erneuern ließ. Ein weiterer Ex Libris-Vermerk auf der ersten Seite des Buches verweist auf einen „Hinric(us) Nicolai“, in dessen Besitz sich das Werk nachfolgend befunden haben muss. Letztendlich wanderte das Buch dann in den Besitz des preußischen Obergerichtspräsidenten in Aurich, Christoph Friedrich von Derschau (1714-1799). Dieser vermachte seine Sammlung testamentarisch der ostfriesischen Regierung mit der Auflage, sie in Aurich zu belassen. Als Depositum ist die Derschau-Sammlung noch heute ein Kernelement des Altbestandes der Landschaftsbibliothek.
Christopher Folkens