Die „Ostfriesische Ausgabe“ der Nordwest-Nachrichten 1945
– Ein Nachrichtenblatt der britischen Militärbehörde in der „Stunde Null“ –
Die „Stunde Null“ beginnt in Ostfriesland spätestens mit der Kapitulation aller deutschen Truppen in den Niederlanden, Dänemark und Nordwestdeutschland in der Lüneburger Heide am 5. Mai 1945. Der Begriff der „Stunde Null“ ist unter Historikern zu Recht umstritten, und doch beschreibt er passend den Moment der radikalen Zäsur, der durch die Niederlage, durch Zerstörung, Vertreibung und Not im Mai 1945 Einzug gehalten hat. Aus der Sicht der Siegermächte war die „Stunde Null“ aber auch die Chance zu einem radikalen Bruch mit Nationalismus, Militarismus und Nationalsozialismus in Deutschland.
Die Landschaftsbibliothek in Aurich verfügt über einen Band der „Ostfriesischen Ausgabe“ der ab Anfang Juni in Oldenburg von der Militärregierung gedruckten Nordwest-Nachrichten (NwN). Sie stellt eine äußerst wichtige Quelle für die ostfriesische Geschichte der ersten Nachkriegsmonate 1945 dar. Die NwN erschienen bis zum 24. April 1946 als Nachrichtenblatt der alliierten Militär-Behörde. Bereits ab dem 26. April 1946 folgte darauf die Nordwest-Zeitung des Zeitungverlegers Fritz Bock. Die NwN ist in den Bibliotheken nur bruchstückhaft in wenigen Ausgaben überliefert. In der Landesbibliothek Oldenburg und in der Landschaftsbibliothek Aurich sind größere Bestände der Auricher und Oldenburger Ausgaben öffentlich zugänglich.
Radio und Tageszeitungen waren die wichtigsten Medien für die britische Besatzungsmacht, um sofort ihr Konzept der „Re-Education“ des deutschen Volks umzusetzen. Dabei sollte die „Umerziehung“ der Deutschen „insgesamt so indirekt, unsichtbar und fern sein, wie es mit ihrer Wirksamkeit vereinbar ist“. Die Presse diente für die britische Militärregierung natürlich als „Sprachrohr“, um Erlasse und Verfügungen bekannt zu machen. Aber zugleich sollten die Zeitungen auch „bei der geistigen Umwandlung und Neuorganisierung des deutschen Volkes“ mitwirken und dazu beitragen, ein „Gefühl für Orientierung, Zielsetzung und Verantwortlichkeit“ zu vermitteln. „Wir wollen kein neues Propagandaministerium schaffen, das dem Deutschen vorgeschriebene Gedanken eintrichtert, sondern wir wollen den Deutschen, soweit es geht, die Möglichkeit geben, ihre eigenen Gedanken auszudrücken und ihren eigenen Nachrichtendienst zu betreiben.“
Bereits am Sonnabend, den 2. Juni 1945 – kaum vier Wochen nach Kriegsende – kam trotz absoluten Papiermangels die erste Ausgabe der Neuen Oldenburger Presse heraus. Die Zeitung erschien in den ersten fünf Wochen zunächst jeweils einmal wöchentlich am Sonnabend, danach gab es jeweils dienstags und freitags zwei wöchentliche Ausgaben. Schon am 6. Juli 1945 erfolgte mit der sechsten Nummer eine Umbenennung in „Nordwest-Nachrichten“. Als Herausgeber wurde die „Neue Oldenburger Presse“ im Impressum genannt. Am 13. September wurde in der Kirchstr. 8 in Aurich ein Büro der NwN für den „Ostfriesischen Nachrichtendienst“ eingerichtet. Leiter war Dr. Rolf Ippen. Mit dem neuen Titel NwN ist natürlich der Anspruch verbunden, ein über Oldenburg hinausreichendes Gebiet abzudecken. Tatsächlich erfährt die NwN weite Verbreitung: In der 10. Nummer wird die Auflage mit 286.000 Exemplaren angegeben. Die erste wirklich „Ostfriesische Ausgabe“ erscheint aber erst mit der 24. Nummer am 7. September 1945. Die Nachrichten aus der Region finden sich seitdem auf der dritten Seite.
Viele der ersten Artikel sind von Engländern geschrieben worden. Darauf lassen auch Satzbau und Grammatik schließen. Aber schon bald wurden „deutsche Berichterstatter“ oder „Lokalberichterstatter“ aktiv zur Mitarbeit aufgefordert. Ihre Artikel wurden aber nicht durch Namen oder Kürzel gekennzeichnet. Im Zuge der weiteren Professionalisierung werden in der Ausgabe vom 23. November schließlich „Ressort-Redakteure und Berichterstatter“ gesucht.
Schon in den letzten Juniausgaben wurden gegen Gebühren auf der vierten Seite auch Familienanzeigen, geschäftliche und private Anzeigen zugelassen. Militärische und behördliche Bekanntmachungen und kirchliche Nachrichten waren kostenfrei. Über die Zulassung der Annoncen entschied aber jeweils die Militärbehörde.
Ungeachtet der Tatsache, dass die Zeitungen kontrolliert wurden und nicht unabhängig berichten konnten, war der Andrang auf die NwN groß: In Oldenburg wurde sie zunächst nicht frei verkauft, sondern durch Austräger vorschriftsmäßig direkt in die Wohnungen verteilt, so dass rund fünf Einwohner eine Zeitung bekamen. Die Träger sollten nicht aufgehalten werden, und sie durften keine Zeitungen auf der Straße abgeben.
Ein zentrales Anliegen der Berichterstattung der NwN war die Konfrontation der Leserschaft mit den Verbrechen und den Verbrechern des Nationalsozialismus. Es gab Schilderungen der Leiden in den KZs. Mehrfach wurde Hitlers Tod thematisiert. Die regelmäßige und ausführliche Berichterstattung zu den großen NS-Prozessen in Lüneburg und Nürnberg erhielt trotz Materialknappheit regelmäßig eine zusätzliche Doppelseite. Aus Ostfriesland wurde z.B. über die Umerziehung früherer Nationalsozialisten in Norden berichtet: „Größere Gruppen ehemaliger Mitglieder der NSDAP haben auf dem jüdischen Friedhof unter Aufsicht des Friedhofsgärtners die Anlagen instand gesetzt.“
Im Laufe der Monate zeigte sich bei gleichzeitiger Aufhebung des strengen Fraternisierungsverbots eine deutliche Tendenz zur Aufweichung der strikten Informationspolitik. Die Berichterstattung sollte mehr der Unterhaltung dienen und an den alltäglichen Sorgen und Freuden ihrer Leserschaft teilnehmen. Es wurde über Jubiläen, runde Geburtstage, Konzerte und auch wieder über regionalen Sport berichtet.
Das Auricher Exemplar der NwN ist vermutlich die letzte in Bibliotheken vorhandene Ostfriesische Ausgabe. Die Zeitungsblätter wurden hier mitunter auch als Notizzettel genutzt. Sie zeigen hin und wieder Tintenflecken und handschriftliche Notizen z.B. zum Üben englischer Vokabeln. Es ist deshalb als glücklicher Umstand zu betrachten, dass das Zeitungspapier anschließend nicht zum Anfeuern des Ofens oder als Packpapier Verwendung fand, sondern die ersten 57 Nummern des Jahres 1945 der NwN in der Landschaftsbibliothek überliefert sind.
Paul Weßels
Digitalisat 1945, Juni-September (292,95 MB)
Digitalisat 1945, Oktober-Dezember (319,11 MB)