Eitelkeiten und Hahnenkämpfe
– Friedrich Sundermanns Ostfriesisches Jahrbuch 1869/70 –
Zu den vielen, mehr oder minder erfolgreichen Versuchen, im 19. Jahrhundert eine regionale Zeitschrift in Ostfriesland zu etablieren, zählt auch das „Ostfriesische Jahrbuch“, das in nur zwei Einzelheften Ende 1869 und Anfang 1870 bei Haynel in Emden erschien. Der Untertitel der von „Kennern und Freunden ostfriesischen Landes und Volkes“ in Emden herausgegebenen, eher heimattümelden Hefte versprach „Altes und Neues aus Ostfriesland“. In einem Werbeblatt für das erste Heft werden „Vergangenheit und Gegenwart des ostfriesischen Landes und Volkes“ als seine „beiden Leitsterne“ bezeichnet.
Ein gebundenes Exemplar des Ostfriesischen Jahrbuchs in der Landschaftsbibliothek bezeichnet in handschriftlichen Einträgen den berühmten Pädagogen und Pionier der ostfriesischen Erzählvolkskunde Friedrich Sundermann (1843-1925) als Herausgeber. Die Ausgabe stammt zweifellos aus dessen Nachlass und kann wegen zahlreicher handschriftlicher Kommentare und eingeklebter Zeitungsartikel als früheres Handexemplar Sundermanns angesehen werden. Darin gibt er ausführlich Auskunft über die Entstehungsgeschichte und die Umstände des Erscheinens des Ostfriesischen Jahrbuchs.
Von Neujahr 1864 bis Anfang Dezember 1870 war Friedrich Sundermann Zweiter Lehrer an der städtischen Volksschule in Emden, um danach Lehrer in Theener bei Hage und seit Ostern 1874 in Norden zu werden. Außerdem war Sundermann ein eifriger Publizist. Bereits 1868 hatte der erst 25jährige Lehrer einen Gedichtband veröffentlicht, 1869 einen bis heute geschätzten ersten Band ostfriesischer Sagen.
Aber erst die Herausgabe des Friesischen Jahrbuchs 1870 schien heftige Reaktionen, verletzte Eitelkeiten und Hahnenkämpfe in Emden hervorzurufen. Sundermann beschrieb diese in seinem Handexemplar als „unangenehme literarische Erfahrungen“ mit drei Emder Größen der Natur- und Heimatforschung. Den ersten, Dr. Michael August Prestel (1809-1880), bezeichnete Sundermann etwas spöttisch als den „literarischen Souverän Ostfrieslands“. Der Gymnasialprofessor, Naturwissenschaftler und Meteorologe war in diesen Jahren die in Emden herausragende Forscherpersönlichkeit. Prestel würde aber, so Sundermann, „mit wuchtiger Hand jeden in seine (natur- und heimatkundlichen) Gebiete einbrechenden Autor“ niederhalten, weil ihm „jeder andere ostfriesische Natur- und Heimatforscher wie ein Nebenbuhler“ erschiene. Prestel hätte sich empört, dass Sundermann im Jahrbuch einen Beitrag „Zur Geschichte der Nordsee“ veröffentlichte und bezichtigte ihn in den Sitzungen der Emder Naturforschenden Gesellschaft öffentlich des Plagiats. Sundermann kommentierte die Angriffe aber beinahe mit Stolz als „Prestelsches Neidhammelwerk“ gegen einen „27jährigen Gelbschnabel“, der ein selbständiges publizistisches Unternehmen ins Werk gesetzt hätte.
Sundermann brachte aber auch den Emder Klassenlehrer Hermann Meier (genannt Meier II, 1828-1877), den „literarischen Antipoden Prestels“, gegen sich auf. Meier war ein anerkannter Heimatforscher und Schriftsteller, galt aber als aufbrausend, rechthaberisch und ätzend scharf. Die beiden hatten gemeinsam ostfriesisches Volkserzählgut gesammelt, traten aber seit 1868 als Konkurrenten bei der Veröffentlichung ihrer Fundstücke auf. Nachdem nun das erste Heft des Ostfriesischen Jahrbuchs mit Sagen erschienen war, schrieb Meier an Sundermann: „Wir beide sind jetzt miteinander fertig.“ Er kündigte seine Zusammenarbeit auf und forderte die Texte zurück, die er Sundermann bereits überlassen hatte. Und er rief „ein Konkurrenz-Unternehmen“ ins Leben, als er mit dem Buchdrucker Risius in Weener im Juli 1871 das „Ostfriesisches Familienbuch für Land und Stadt“ gründete.
Den größten Ärger verursachte aber der „kleine literarische Gernegroß“, der Lehrer und Organist Gerd Terburg Hieronymus aus Emden-Harsweg. Hieronymus hatte Sundermann für das zweite Heft des Jahrbuchs einen Beitrag ohne Autorennamen zur Veröffentlichung überlassen. Später protestierte Hieronymus in der Ostfriesischen Zeitung, seine Autorenschaft würde unterschlagen. Der Verleger Haynel beauftragte einen Rechtsanwalt mit der Klärung der Angelegenheit, Hieronymus erhielt ein Honorar, und Sundermann kündigte ihm die weitere Mitarbeit auf.
Aber nach so viel Ärger mit den literarischen Emder Lokalmatadoren hatte Haynel keine Eile mit der Herausgabe eines dritten Hefts des Jahrbuchs. Und im Sommer 1870 wurden schließlich alle durch den „großen Krieg“ zwischen Frankreich und Deutschland überrascht. Für Sundermann zog eine „neue Zeit“ herauf, „die alte patriarchalische lag im Absterben, weder mein ‚Jahrbuch‘ noch Meiers ‚Familienbuch‘ zog mehr. Selbst Prestels Lebenswerk fand nur wenige Käufer.“ 1873 folgte im Verlag Haynel das breiter angelegte, von Ernst August Zwitzers herausgegebene „Ostfriesische Monatsblatt“, an dem alle Autoren mitarbeiteten, die sich noch 1870 in Emden bekämpft hatten.
Paul Weßels