„Ich ersterbe in tiefster Devotion“
– Der „Neue ostfriesische Briefsteller“, Aurich 1797 –
In Ostfriesland wurden Briefsteller früh als hilfreiche Ratgeber bei der Korrespondenz wahrgenommen. Die ältesten Exemplare in der Landschaftsbibliothek in Aurich wurden 1591 in Venedig und 1601 in Antwerpen gedruckt. Der jüngste Ratgeber aus dem Bibliotheksbestand stammt aus dem Jahr 2000 und enthält bereits Hinweise für das Verfassen von E-Mails und Textnachrichten auf dem Handy. Ein besonderes Exemplar der Landschaftsbibliothek aus dieser Reihe ist 1797 in Aurich mit einem sehr ausführlichen Titel erschienen: „Neuer Ostfriesischer Briefsteller oder Anweisung, wie man Briefe, Rechnungen, Quittungen, Anweisungen, Schuldscheine, Wechsel und Contracte ec. ausfertiget; … zum Gebrauch für junge Leute“. Dieses Auricher Exemplar ist das einzige, das überhaupt in Bibliotheken überliefert ist. Das Bändchen im Taschenbuchformat und mit einem Umfang von knapp 100 Seiten nennt keinen Autoren und wurde bei Johann Ad. Schulte gedruckt und war „zu bekommen bey D. Wiechert.“
David Wiechert ist um 1753 in Tilsit (heute Sovetsk) in Ostpreußen geboren worden. 1780 heiratete er Christine Auguste van Bühren in Aurich, ließ sich dort als Buchbinder und Briefkartenhersteller nieder und erwarb 1792 ein Haus in der Auricher Osterstraße. 1795 geriet er aber in prekäre Verhältnisse. Hochverschuldet ließ er ein Verzeichnis von älteren Büchern aus seinem Besitz drucken, die er am 9. März 1796 bei Vogt Neddermann in Marienhafe öffentlich versteigern ließ. 1796 war er aber wieder in Aurich als Buchbinder aktiv und ein Jahr später verlegte er den „Neuen ostfriesischen Briefsteller“. Solche Projekte trugen aber nicht zu seiner wirtschaftlichen Gesundung bei. Nach dem Tod seiner Frau 1803 flüchtete David Wiechert überschuldet aus Aurich und ließ seine drei noch unmündigen Kinder mittellos zurück. Er wurde 1809 als Buchbinder und „Briefkartenfabrikant“ in Hamburg eingetragen und ist dort 1813 im Alter von 60 Jahren verstorben.
Der lange Originaltitel des „Neuen ostfriesischen Briefstellers“ bewarb das Buch vor allem „zum Gebrauch für junge Leute“. Zugleich bot Wiechert es insbesondere für Schullehrer und andere Buchbinder zur Subskription an. Die Neuveröffentlichung sollte ein möglichst unterschiedliches Publikum ansprechen: Nicht nur private Briefschreiber und -schreiberinnen wurden angesprochen, sondern auch diejenigen, die eine Einführung in die private Buchhaltung oder Vorlagen für Verträge im Kreditwesen benötigten.
Wiecherts Briefsteller kennt keinen Autoren und kommt ohne Vorwort oder Einführung aus. Aber es wird von Beginn an deutlich, dass er sich eher an eine kleinbürgerliche Zielgruppe richtete, die das Briefeschreiben nicht gewohnt war. Es geht zunächst um Grundlagen der Korrespondenz, und einen ausführlicheren einführenden Abschnitt bilden die Titulaturen, die immer ein wichtiger Standardteil der Briefsteller als Hilfe für die richtige Ansprache der Adressaten und Adressatinnen bilden.
Das Hauptkapitel des Bändchens bilden 32 Beispielbriefe, deren Inhalte einen interessanten Blick auf Sozialbeziehungen, Etikette und Abhängigkeiten zum Ende des 18. Jahrhunderts erlauben. Es geht darin vor allem um Alltagssituationen, um Heiratspläne, Todesnachrichten, Hochzeitsbriefe, Darlehen und andere Bittbriefe. Alle Schreiben richten sich an Männer. In der Regel werden sie auch von Männern verfasst. Nur drei Briefe von Frauen bilden eine Ausnahme, was einen Einblick in Sozialverhältnisse und Geschlechterbeziehungen gewährt: Hilflos ohne Mann und zugleich dessen Dienerin, sind die Frauen vor allem dazu ausgebildet, für den Mann einen ruhigen Haushalt zu führen und sein Vergnügen zu vermehren.
Der Stil der Briefe, vor allem der Vorlagen für private Situationen, wirkt aus heutiger Sicht durchaus „geschraubt“. In vielen Briefen wird das Gefühlsleben stark thematisiert, und es finden sich mitunter scheinbar unnatürliche, überzogene Ausdrucksweisen. Der Briefstil ist also deutlich geprägt von der 1797 bereits ausklingenden literarischen Epoche der Empfindsamkeit und damit vermutlich auch weit entfernt von der ostfriesischen Wirklichkeit.
Grundsätzliche Ausführungen über die Notwendigkeit, ein „Schuldbuch“ als Dokument zu führen, leiten etwa ab der Mitte des Bändchens einen deutlichen inhaltlichen Bruch ein. Es geht anschließend um Techniken einer rudimentären Buchführung, Vorlagen für Rechnungen, um Quittungen und Geldanweisungen sowie um Miet-, Bau- oder Lehrverträge.
Aber wie „ostfriesisch“ ist dieser „Neue ostfriesische Briefsteller“ eigentlich? Die angeführten Absender und Adressaten tragen in der Regel keine typisch ostfriesischen Vornamen und Namen, Ortsnamen im Text wie Emden, Norden, Leer etc. sind in den Briefen letztlich austauschbar. Es bleibt unklar, aber es könnte sich durchaus um ein Plagiat handeln, indem David Wiechert sich eine fremde Vorlage aneignete, sie anpasste und um zwei eigene Briefe ergänzte.
Der glücklicherweise in der Landschaftsbibliothek überlieferte Ratgeber stammte, wie auf dem Vorsatzblatt vermerkt, aus privatem Besitz von Christina Charlotte Koch aus „Rauder W[ester] Fehn“. Starke, deutlich wahrnehmbare Gebrauchsspuren finden sich als Schmutz- und Fingerabdrücke vor allem in den unteren Seitenecken des ersten Teils der Privatbriefe. Das Buch ist intensiv von jemandem gelesen worden, die oder der ansonsten auch Arbeiten ausführte, bei denen man sich die Hände dreckig machen musste.
Paul Weßels