„Die Bremer Stadtmusikanten“ von Werner Klemke
– Das erste deutsche Kinderbuch der Nachkriegszeit aus Norden, 1945 –
Der bekannte Norder Journalist Johann Haddinga hatte Weihnachten 1945 ein Exemplar des Kinderbuchs „Die Bremer Stadtmusikanten“ unter dem Baum liegen. Die zwölfseitige kleine Broschur war 1945 in seiner Heimatstadt produziert worden und vermutlich das erste Kinderbuch der Nachkriegszeit in Deutschland. Johann Haddingas Exemplar wird heute in der Dokumentationsstätte Gnadenkirche Tidofeld e.V. ausgestellt. 2022 hat die Dokumentationsstätte auch ein Reprint des Märchenbuchs veröffentlicht. Die Landschaftsbibliothek präsentiert ihr Exemplar als „Buch des Monats“. Die Broschur der „Bremer Stadtmusikanten“ ist die erste eigenständige Veröffentlichung von Werner Klemke (1917-1994). Das kleine Märchenbuch wurde zum Ausgangspunkt all der vielen nachfolgenden Veröffentlichungen des später in der DDR lebenden Künstlers, der als einer der bedeutendsten Grafiker und Buchgestalter des 20. Jahrhunderts in Deutschland gelten darf.
Bei der zeichnerischen Darstellung des Märchens durch Werner Klemke stehen die Tiere in ihrer Gemeinschaft, aber auch in ihrer Individualität im Vordergrund. Das Geschehen ist durch eine holländische Windmühle und das Ortsschild „Bremen“ in der norddeutschen Tiefebene lokalisiert. Die dargestellten Landschaften erinnern aber mit leichten Hügeln und Tannenwäldern und mit einem Räuberhaus, das eher einem Hexenhäuschen gleicht, an die Bilderwelt der klassischen Märchen. Die Figurenzeichnungen vom bösen Müller, der Köchin mit dem Hackebeil und den Räubern wirken dagegen eher „berlinerisch“-großstädtisch.
Werner Klemke wurde 1945 durch die besonderen Zeitumstände der Kriegs- und Nachkriegszeit in die Stadt Norden verschlagen Bevor er 1939 zur Flak-Ersatz-Abteilung General Göring eingezogen wurde, arbeitete er als Trickfilmzeichner. Sein Regiment wurde im Juni 1940 nach Utrecht verlegt. Werner Klemke hatte das Glück, seitdem in den Niederlanden hauptsächlich in den Schreibstuben der Flakstationen seiner Einheit eingesetzt zu werden. Diese Tätigkeit ermöglichte es ihm auch während des Kriegs, seine Talente weiter zu entwickeln und sporadisch in Zeitungen und Zeitschriften zu veröffentlichen. Außerdem entstanden Gelegenheits- und Gefälligkeitsarbeiten, die häufig von Soldatenhumor und Kameraderie geprägt waren. Aber erst 2011 wurde öffentlich bekannt, dass Werner Klemke auch subversiv agierte und seine besonderen zeichnerischen und gestalterischen Fähigkeiten bis 1944 auch für das Fälschen von Ausweisen und Lebensmittelkarten nutzte. 1942 kam Werner Klemke in Kontakt zu einer niederländisch-jüdischen Widerstandsgruppe, die gemeinsam etwa 300 bis 500 Personen das Leben rettete. Die klandestine Tätigkeit von Werner Klemke blieb aber unentdeckt.
Am 4. Mai 1945 endete an der Nordseeküste der Krieg mit der Teilkapitulation der Wehrmacht. Der Stabsgefreite Werner Klemke kam vermutlich in diesen Wochen als Internierter aus den Niederlanden in das ehemalige Marinelager Tidofeld bei Norden. In Ostfriesland wurden nördlich des Ems-Jade-Kanals im Mai/Juni 1945 etwa 180.000 Kriegsgefangene zusammengezogen. Die Internierten genossen relative Bewegungsfreiheit und unterstanden zur Aufrechterhaltung der Ordnung weiterhin ihren alten Wehrmachtsvorgesetzten. In Tidofeld traf Werner Klemke auf den gleichfalls internierten Drucker Martin Kirchner, von dem Klemke die Kunst des Steindrucks erlernte. Gemeinsam mit dem Norder Besitzer der „Grafischen Kunstanstalt und Druckerei“ Peter Siebolts planten die beiden bereits in den ersten Nachkriegsmonaten verschiedene Projekte. Dazu gehörte auch das illustrierte Büchlein mit dem Märchen von den „Bremer Stadtmusikanten“. Klemke entwarf für die Text-Bild-Komposition 20 Schwarz/Weiß-Lithographien in unterschiedlicher Größe und gravierte Text und Zeichnungen seitenverkehrt in die weichen Kalkschiefersteinplatten. Der dünne Einband-Karton zeigt vorne die Stadtmusikanten auf ihrem Weg in den Wald, und hinten wird die Pyramide der Tiere abgebildet. Vielleicht wegen des damals herrschenden Papiermangels gibt es das Heft in den beiden Grundfarben Hellgrün und Hellbraun. Täglich konnten 15 Exemplare gedruckt werden, die aber nicht verkauft, sondern in der Vorweihnachtszeit auf dem Schwarzmarkt gegen Lebensmittel eingetauscht wurden. Vermutlich hat man 1946 eine zweite Ausgabe der ersten Auflage erstellt. Auf der Rückseite der zweiten Ausgabe wird vermerkt, dass Hans Schugardt der Drucker gewesen sei.
Werner Klemke wurde am 30. Januar 1946 von einer britischen Kriegsgefangenenentlassungsstelle mit der Entlassungsanschrift Parkstraße 35 in Norden registriert und ist danach nur noch wenige Wochen in Norden geblieben. Am 25. März 1946 meldete er sich bei seiner Familie in Berlin zurück. Doch obwohl er nicht mehr in Norden lebte, erfolgte 1947 nach den zwei Ausgaben der ersten Auflage auch noch eine echte zweite Auflage, die auf der Rückseite den Flüchtling Paul Georg Hopfer (geb. 26.09.1890) als Verleger benennt. Dieser war bis zum Kriegsende Drucker und Verleger in Burg bei Magdeburg und Berlin gewesen. Anschließend hat er vergeblich versucht, sich in Nordwestdeutschland als Verleger zu etablieren.
Neben den „Bremer Stadtmusikanten“ hat Werner Klemke in Norden mit Peter Siebolts noch weitere Werke publiziert. Darunter auch eine aus fünf handkolorierten Lithographien bestehende illustrierte Sammlung plattdeutscher Sprichwörter, die sich aber schlecht verkaufte – vermutlich weil das verwendete Hamburger Platt in Ostfriesland nicht so gut ankam. Eine weitere Sammlung mit Abbildungen ostfriesischer Wappen soll aber guten Absatz gefunden haben. Leider findet sich diese Wappensammlung bisher in keiner Bibliothek, vielleicht schlummern einzelne Exemplare noch bis heute unentdeckt in ostfriesischen Wohnzimmerschränken.
Paul Weßels