Spion und Landesverräter?
– Der friesische Diplomat und Historiker Lieuwe van Aitzema (1600 – 1669) und seine Geschichte der Vereinigten Niederlande (1655- 1671) –
Eines der zentralen zeitgenössischen Werke zur Geschichte des „Goldenen Zeitalters“ der Niederlande im 17. Jahrhundert von Lieuwe (Leo) van Aitzema, das man ansonsten eher selten in deutschen Bibliotheken findet, ist in der Landschaftsbibliothek in Aurich gleich zweimal vorhanden: die „Historie of Verhael Van Saken van Staet En Oorlogh, In, ende ontrent de Vereenigde Nederlanden“ („Geschichte der Angelegenheiten von Staat und Krieg der Vereinigten Niederlande“).
Die erste, aus 14 Bänden bestehende Serie in der Auricher Bibliothek stammt aus dem Besitz der ostfriesischen Grafen und Fürsten. Sie ist in hellem Leder eingebunden, und zentral auf der Vorder- und Rückseite der Buchdeckel ist das gräflich-fürstliche Wappen eingeprägt. Diese Bücher wirken wenig benutzt, zeigen auf dem Titelblatt aber das Kürzel von Christian Eberhard, Fürst von Ostfriesland (1665 – 1708) und Anstreichungen und kurze Anmerkungen, die vor allem Ostfriesland betreffen. Dagegen sind die Ledereinbände der zweiten Ausgabe aus der Administratorenbibliothek der Landstände abgegriffen und verschmutzt. Sie wurden offensichtlich häufig zu Rate gezogen.
Der Autor Lieuwe van Aitzema (1600-1669) entstammte einer adligen Familie aus dem friesischen Dockum. Bereits im Frühjahr 1617 nahm er ein Studium der Rechtswissenschaften in Franeker auf und wurde 1622 nach einer Reise durch Europa in Orleans zum Doktor beider Rechte promoviert. Daraufhin wurde er in schneller Folge Rechtsanwalt in Leeuwarden, 1624 Anwalt in Den Haag, 1627 „Resident“ der Hansestadt Magdeburg im Haag und 1629 auch Vertreter der Hansestädte Hamburg, Bremen und Lübeck in den Generalstaaten. Deshalb hatte van Aitzema exzellente politische Verbindungen zu allen Seiten.
Von Den Haag aus lieferte van Aitzema ausländischen Regierungen gegen Geldzahlungen wichtige Dokumente. Er informierte auch den englischen Staatsminister John Thurloe (1616-1668), der zugleich auch Chef des Geheimdienstes von Oliver Cromwell war, über politische Angelegenheiten in den Vereinigten Niederlanden. Zugleich trat van Aitzema aber auch für die Einheit der Niederlande, für die niederländische Friedenspartei und für religiösen und politischen Pluralismus ein.
1650 entschied sich van Aitzema als anonymer Zeithistoriker zu debütieren. Er veröffentlichte zunächst 1650 in Den Haag anonym eine zweibändige Geschichte der „Nederlandsche Vreedehandeling“. Es folgten 1653 und 1655 erweiterte Auflagen über die Geschichte der Friedensverhandlungen, die dann in einer Neuauflage 1657 zu einer bis in das Jahr 1669 reichenden Reihe über die „Geschichte von Staats- und Kriegsangelegenheiten der Vereinigten Niederlande“ ausgeweitet wurde. Diese Bücher befinden sich auch in Aurich.
Van Aitzema wurde so zu einem sehr erfolgreichen Autor zeitgeschichtlicher Werke, die teilweise auch lateinische und englische Übersetzungen erfuhren. Sein Hauptwerk ist zweifellos die „Geschichte der Staats- und Kriegsangelegenheiten“. Darin wird das im Entstehen begriffene niederländische Welthandelssystem beschrieben und die öffentliche Debatte dieser Jahre über die beste Staatsform, die Rolle der Republik oder die Beziehung von Kirche und Staat wiedergegeben. Dabei nahm van Aitzema auch unpopuläre Standpunkte ein und forderte z. B. Toleranz gegenüber dem Katholizismus.
Erst nach seinem Tod 1669 erhoben die Generalstaaten Anklage gegen ihn wegen seiner Kontakte zu England und verboten zeitweise die Herausgabe seiner Bücher. Man beschlagnahmte auch seine Korrespondenz und seinen Nachlass, so dass dieser bis heute im Archiv in Den Haag studiert werden kann.
Das Urteil der späteren Historiker über dieses Erfolgswerk des 17. Jahrhunderts fällt sehr unterschiedlich aus. Ursprünglich noch wegen der Fülle von Quellen geschätzt, wurde er im 19. Jahrhundert nationalistisch gesinnten Historikern suspekt: Man missbilligte seine Methoden, sich Zugang zu geheimen Akten zu verschaffen, seinen Handel mit Akten und Unterlagen sowie die enge Beziehung zu englischen Politikern. Er wurde als „Spion“ des „Hochverrats“ bezichtigt, und ihm wurde unterstellt, zum Katholizismus übergetreten zu sein.
Aus heutiger Perspektive ist das Werk van Aitzemas für die ostfriesische Geschichtsschreibung insbesondere deshalb von Bedeutung, weil er sehr häufig den Blick auf die Beziehungen der Vereinigten Niederlande zu Ostfriesland richtet und dabei aus der Außenperspektive auch die fortwährenden innerostfriesischen Streitigkeiten zwischen Ständen und Grafen bzw. Fürsten beschreibt.
Paul Weßels