Der „kanadische Sommer“ in Ostfriesland
– Die friedliche Übergabe Aurichs als wichtiges Kapitel in den Memoiren des kanadischen Offiziers James Alan Roberts (1907-1990) –
Kanada kämpfte im Zweiten Weltkrieg an der Seite der britischen Truppen auch für ein eigenes nationales Selbstbewusstsein. Insgesamt verloren etwa 42.000 Kanadier ihr Leben und leisteten damit einen großen Anteil am „Preis für die Freiheit“, den die Alliierten aufbringen mussten, um Europa vom Nationalsozialismus zu befreien. Noch heute ist dieser Beitrag fest im kollektiven kanadischen Gedächtnis verankert.
Die Befreiung Ostfrieslands erfolgte in den letzten Kriegswochen des Zweiten Weltkriegs im April und Mai 1945. Nach dem Rheinübergang der Alliierten im März 1945 rückten britische, kanadische, polnische und amerikanische Truppen in Nordwestdeutschland vor. Für Ostfriesland war dabei das II. Kanadische Korps unter Generalleutnant Guy Simonds verantwortlich, das als Teil der 1. Kanadischen Armee die Region zwischen Ems und Weser befreien sollte. Die deutschen Verteidiger der Armeeabteilung Straube leisteten nur noch schwachen Widerstand, während die Zivilbevölkerung zunehmend ein Ende der Kämpfe herbeisehnte. In den Mittelpunkt rücken sollte nun auch der kanadische Offizier James Alan Roberts.

Roberts war 1907 in Toronto als Sohn eines Arztes zur Welt gekommen. Nach einem Studium an der Universität Toronto arbeitete er zunächst im Versicherungswesen. Er mochte die Arbeit nicht, aber sie sicherte seine Existenz in Zeiten der Weltwirtschaftskrise. 1933 diente er als Leutnant der Reserve bei den „Governor General’s Horse Guards“. Ende der 1930er Jahre siedelte er nach Schottland um, wo er mit einem Verwandten ein Geschäft für Speiseeis betrieb.
Als 1939 der Krieg ausbrach, suchte Roberts aktiv den Frontdienst und kehrte dazu nach Kanada zurück. Über die „Toronto Scottish“ gelangte er schließlich zu den „Royal Canadian Dragoons“, wo er trotz seines Alters von 32 Jahren als einer der jüngsten Offiziere aufgenommen wurde. Durch seine Hingabe und sein militärisches Geschick stieg er rasch zum Major und stellvertretenden Regimentskommandeur auf. 1941 wurde er nach Europa verlegt und schrieb dort das Handbuch für alle Aufklärungseinheiten der Kanadier. Im Mai 1943 wurde Roberts zum Kommandeur des 12. Manitoba Dragoons ernannt. Am 7. Juli 1944 landete er mit seinem Regiment in der Normandie und nahm an den entscheidenden Kämpfen nach der erfolgreichen alliierten Landung teil.
Für seine herausragende Führung während des Vorstoßes von Falaise zur Seine wurde Roberts im Dezember 1944 mit dem britischen „Distinguished Service Order“ ausgezeichnet. Roberts führte seine Truppen auch durch die verlustreiche Schlacht um die Schelde-Mündung, den Ausbruch von Nijmegen und die Befreiung der Niederlande. Als Brigadegeneral übernahm er das Kommando über die 8. Kanadische Infanteriebrigade der 3. Kanadischen Division.
Nach Kriegsende diente Roberts Ende 1945 noch als einer von vier leitenden Gerichtsoffizieren im Kriegsverbrecherprozess gegen SS-Kommandeur Kurt Meyer in Aurich. Danach kehrte er nach Kanada zurück, wurde 1959 kanadischer Staatssekretär, 1964 zu Kanadas erstem stellvertretenden Generalsekretär der NATO ernannt und war von 1969 bis 1972 kanadischer Botschafter in der Schweiz. Roberts verstarb 1990.
Die kampflose Übergabe der Stadt Aurich nimmt in Roberts‘ 250-seitigen Memoiren „The Canadian Summer“ einen wichtigen Teil ein. Roberts beschreibt die letzten Kampfhandlungen nach der Überquerung der Ems bei Leer, wo die 8. Brigade auf erbitterten Widerstand deutscher Marinekadetten und gemischter weiterer Truppen stieß.
Der Höhepunkt von Roberts‘ Schilderung sind aber die dramatischen Verhandlungen um die kampflose Übergabe Aurichs. In der Nacht vom 3. auf den 4. Mai 1945 gegen 23 Uhr erschienen deutsche Unterhändler unter weißer Flagge an den kanadischen Linien – Studienrat Friedrich van Senden und Heinrich Alberts. Roberts wählte den geschickten Weg eines Kompromisses und stellte ein Ultimatum, wonach bis 12 Uhr am Folgetag deutsche Abgesandte bei den Kanadiern sein mussten. Roberts zog dann am 4. Mai mit zivilen deutschen Begleitern und dem deutschen Oberstleutnant Harms gen Aurich.
In der Auricher Kaserne fanden schließlich die Verhandlungen zwischen Brigadier Roberts und Kapitän zur See Eberhard Jaehnke als Kommandant der Festung statt. Die Situation war angespannt und kompliziert, da gleichzeitig bei Lüneburg Verhandlungen zwischen deutschen und britischen Spitzenmilitärs stattfanden. Jaehnke wollte zunächst nicht verhandeln und verwies auf diese übergeordneten Gespräche. Roberts wusste aufgrund eingeschränkter Nachrichtenverbindungen nichts von diesen parallelen Verhandlungen.
Am 5. Mai eskortierte Roberts schließlich General von Straube, dem alle deutschen Truppen im Raum Weser-Ems unterstanden, zur Unterzeichnung der Kapitulationsurkunde nach Bad Zwischenahn. Ein sehr menschlicher Moment ereignete sich auf der Rückfahrt: Der deutsche Offizier fragte, welchen Beruf Roberts ausübe. Seine Antwort überraschte den deutschen General: Er sei nie Berufssoldat gewesen, sondern Zivilfreiwilliger und habe vor dem Krieg als Eiscremehersteller gearbeitet.
Nach der Kapitulation wurde die 8. Brigade am 15. Mai in die Niederlande verlegt. Am 23. Mai verabschiedete sich Roberts bei einem Galaessen aus Bad Zwischenahn. Der „kanadische Sommer“ hatte begonnen – die Zeitspanne nach dem Friedensschluss bis zur Rückführung der kanadischen Truppen in die Heimat, während der sich kanadische Truppen unter die dankbaren Niederländer mischten und die Freiheit genossen. Was folgte waren rund zweitausend niederländische Kriegsbräute, die mit ihren neuen Ehemännern nach Kanada zurückgebracht wurden.
Roberts‘ Memoiren bieten einen intimen und einzigartigen Einblick in die letzten Kriegstage aus kanadischer Sicht und zeigen sowohl die militärischen Herausforderungen als auch die menschlichen Aspekte des Kriegsendes.
Heiko Suhr