Christentum, Volkstum und Kaisertum in der Krise? 1913 erscheint ein Volkskalender zur propagandistischen Belehrung des Rheiderlandes
– Christlich-nationaler Volks-Kalender für’s Rheiderland, 1. Jahrgang (1914), Weener 1913 –
Volkskalender boten zur Mitte des 19. Jahrhunderts einen wichtigen Gegenpol zu Zeitungen, die vor allem im städtischen Umfeld gelesen wurden, da sie für eher bildungsferne Schichten im ländlichen Raum einen beliebten Lesestoff anboten. Sie lieferten neben dem reinen Kalendarium vor allem praktische Ratgeber: Listen mit Gewerbetreibenden, Beamten, Geistlichen und Lehrern und oft auch Fahrpläne von Bus und Bahn sowie Übersichten zu Markttagen der Region. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kamen oft volkskundliche Themen dazu. Die Volkskalender wurden mehr und mehr zu einem Medium der politischen, militärischen und gesellschaftlichen Beeinflussung.
Zu dieser Gattung gehört auch ein „Christlich-nationaler Volks-Kalender für’s Rheiderland“, der für das Jahr 1914 erschienen ist und der die typische Mixtur dieser Gattung aufweist. Gedruckt wurde der Kalender, der für 15 Pfennige erhältlich war, bei H. Risius in Weener.
Obwohl es im Geleitwort des „Wahlvereins der rechtstehenden Parteien des Kreises Weener“ heißt, der Kalender werde nun „regelmäßig jährlich erscheinen“, ist es aufgrund des Ausbruches des Ersten Weltkrieges offensichtlich bei der einen Ausgabe geblieben. Diese Ausgabe ist zudem deutschlandweit nur in der Landschaftsbibliothek Aurich überliefert und stammte ursprünglich aus dem Besitz des Pädagogen, Volkskundlers und Botanikers Friedrich Sundermann (1843-1924).
Die politische Ausrichtung des Kalenders wird im Geleitwort schon mehr als deutlich. Man wolle „in dieser für unser Vaterland so ernsten Zeit“ darauf hinweisen, dass „unsere nationalen Güter“ im Sinken begriffen sind. Gemeint sind damit Christentum, Volkstum und Kaisertum, die durch diesen Kalender wieder „gestärkt“ werden sollten. Dem typischen Muster der Volkskalender folgend, wollte man aber auch „Freude“ und „Anregung“ vermitteln, dass der Kalender „jedem Rheiderländer ein treuer Freund“ werden möge.
Nach einem Gedicht zum Geleit von Pastor Lötter aus Bunde folgt ein ausführliches Kalendarium, in dem neben den Feiertagen und jahreszeitlich passenden Bauernregeln auch die Markttage in Ostfriesland Erwähnung finden. Die Monatsübersichten werden dabei von gezielten Ratschlägen zur guten landwirtschaftlichen Praxis begleitet.
Nach einigen Hinweisen zum gängigen Briefporto sowie einem „Trächtigkeits- und Brüte-Kalender“ finden sich auch Hinweise zum Personennahverkehr. Hier sind nicht nur Eisenbahnverbindungen nach Leer und Nieuweschans abzulesen, sondern auch die Fahrtzeiten der Dampffähre zwischen Ditzum und Petkum und der Motorfähre zwischen Oldersum und Hatzum.
Der heimatkundliche Teil umfasst dann vor allem den Aufsatz von Pastor Heinrich Reimers (1879-1942) über die Klöster im Rheiderland, also vor allem über die Johanniterklöster in Jemgum und Dünebroek. Entsprechend positiv eingestimmt folgt für die Leserinnen und Leser dann der propagandistische Teil, den wiederum Pastor Lötter mit einem kleinen Beitrag eröffnet.
Ein Herr Pannenborg aus Ditzum verfasste für den Kalender dann einen „Weck- und Mahnruf“, der einen strikt antisozialdemokratischen, antiliberalen und antijüdischen Duktus einschlägt und damit deutlich den propagandistischen Charakter dieser Kalendergattung unterstreicht. Alle bürgerlichen Parteien hätten die Pflicht gegen die „Umsturzpartei“ der Sozialdemokraten vorzugehen und ihnen Einhalt zu gebieten. Im extremen Fall müssten gar – so Pannenborg weiter – unter Ausschaltung demokratischer Verfahren die „Feinde unseres Staatswesens“ mit quasi-diktatorischen „Ausnahmegesetze[n]“ gestoppt werden. Im letzten Abschnitt hetzt Pannenborg dann gegen das Judentum. Dieses müsse man nicht wegen seines Glaubens bekämpfen, sondern weil sie versuchten, das ganze deutsche „Volksleben zu verderben“.
Ebenso abgedruckt – als kurze Besinnung nach heftigster Propaganda – findet sich das Tiermärchen „Der Zaunkönig“ der Gebrüder Grimm. Es folgt aber wiederum ein Versuch der Beeinflussung der Leserschaft im Sinne der Militarisierung der Gesellschaft. Der Abschnitt „Die Batterie der Toten“ ist ein Augenzeugenbericht der Schlacht von Orléans vom 3. und 4. Dezember 1870, die als eine der bedeutendsten Schlachten des Deutsch-Französischen Krieges gilt und mit – natürlich – einem deutschen Sieg endete.
Der nächste größere Abschnitt „Sozialpolitische Bestrebungen“ des streng nationalkonservativen Lehrers Manno Peters Tammena aus Bunderhee führt die wilhelminische Sozialpolitik ins Feld, die ein „unerschöpflicher Segen“ für das Heimatland sei.
Am Ende des Kalenders befinden sich Werbeanzeigen Rheiderländer Unternehmen wie die der Buchdruckerei und Verlagsanstalt H. Risius, der Brauerei S. F. Koolman (Ecks-Bräu) und des Fotoateliers von Bernhard H. Meyer in Weener.
Die Absicht des Kalenders ist aus heutiger Sicht mehr als offensichtlich. Die Inhalte werden von angesehenen Autoren aus dem direkten regionalen Umfeld der Leserschaft vermittelt und bekommen so zusätzliche Glaubwürdigkeit. Es sind eben nicht kaum greifbare Geistesgrößen mit großer Distanz, sondern die bekannten und beliebten Autoritäten vor Ort, die man eventuell sogar persönlich kannte. Gerade das wird die Wirksamkeit der propagandistischen Einflussnahme noch wirkungsvoller gemacht haben.
Heiko Suhr