Seegens-Fustapffen der auch lebenden und waltenden Güte Gottes zu Esens in Ostfriesland
– angemercket So wohl bey dem Bau des Wäysen-Hauses daselbst als auch Verpflegung etlicher Armen-Kinder darinnen, Und zur Stärckung des Glaubens und Beschämung des Unglaubens, Auffgesetzet von Wilhelm Christian Schneider, Pastore Primario der Gemeinde zu Esens daselbst Jm Jahr Christi 1715 –
Wohl wenige Personen in Ostfriesland vereinen bedingungslosen Rückhalt und fundamentalen Widerstand so sehr auf sich wie der pietistische Esenser Prediger Wilhelm Christian Schneider. Er wurde am 23. Juni 1677 in Herbsleben in Thüringen geboren. Seine Reifeprüfung absolvierte er am berühmten Gymnasium in Gotha, wo die Weichen für ein theologisches Studium gestellt wurden, das er ab 1698 in Halle an der Saale begann. Einer seiner Lehrer war August Hermann Francke (1663-1727), der den Lebensweg Schneiders prägte wie kein anderer und der als Hauptvertreter des Halleschen Pietismus gilt.
Zu Anfang des 18. Jahrhunderts sah die Lage für die pietistische Bewegung alles andere als beruhigend aus und Francke brauchte dringend Prediger für einige Gemeinden, so auch in Teschen (heute Cieszyn/Polen) in Oberschlesien. Hierfür war Schneider vorgesehen, der dorthin aufbrach und es in kurzer Zeit zu einer gewissen Beliebtheit vor Ort schaffte, aber von den kaiserlichen Behörden nie im Amt bestätigt wurde und schließlich wieder nach Halle fliehen musste.
Vakant war nun weiterhin die Stelle des Oberpfarrers in Esens. Die Esenser Gemeinde wollte zwar den bisherigen zweiten Pfarrer befördern, diesen Wunsch hat Fürst Georg Albrecht aber ignoriert, um die Stelle mit einem Anhänger des Pietismus zu besetzen. Schneider nahm den Ruf nach Esens nur allzu gern an und wurde schließlich am 11. Oktober 1711 in das Amt eingeführt. Er trat keine einfache Stelle an und sah sich von Anfang an auch mit der Ablehnung seiner Gemeinde konfrontiert. Überliefert sind immerhin eingeworfene Fensterscheiben an Schneiders Haus, zwei Körperverletzungen und schließlich ein Mordversuch. Insgesamt ist davon auszugehen, dass Schneider sich mit einer äußerst renitenten Gemeinde konfrontiert sah.
Die Ursachen dafür waren eher weltlicher Art. Schneider hat nämlich von Anfang an keinen Hehl daraus gemacht, für wie schlecht er die Armenversorgung in Esens hielt und seine Pläne zur Zentralisierung des gesamten Armenwesens in seiner Hand auch öffentlich kundgetan. Er plante zunächst mit einer Armenschule, baute diesen Gedanken aber bald aus und befürwortete nun den Bau eines Waisenhauses. Ein erster Lehrer aus Halle kam schon im Mai 1713 in Esens an, um mit Schneider diese Pläne in provisorischen Bauten umzusetzen. Die Grundsteinlegung für das eigentliche Waisenhaus erfolgte am 23. Juni 1713. Der Bau sollte zweistöckig werden und über einen großen zentralen Saal verfügen. Finanziert wurde der Bau überwiegend aus Geldspenden, aber – vermittelt vom Fürsten – auch durch Sachspenden wie einhunderttausend Backsteine von der geschleiften Festung Leerort.
Wann genau die Einweihung erfolgte, ist nicht überliefert. Im Januar 1714 sind dann die ersten 19 Kinder ins Waisenhaus aufgenommen worden. Später waren es durchschnittlich fünfzig bis 65 Kinder, die hier Obhut fanden. Die reinen Schülerzahlen lagen noch weitaus höher. Es ist davon auszugehen, dass im Waisenhaus meist zwei bis drei Klassen von zwischen 150 und 240 Kindern beschult wurden. Der Alltag im Waisenhaus sah einen 16-Stunden-Tag von 5 bis 21 Uhr vor. Zwischen sechs und neun Stunden waren für die Arbeit vorgesehen, maximal sechs Stunden für den Unterricht.
Zur Ausstattung des Waisenhauses gehörte auch eine imposante Orgel aus der Hand von Gerhard von Holy (1677-1736), der mit ziemlicher Sicherheit als Schüler Arp Schnitgers angesehen werden kann.
Als Rechtfertigung für den Bau des Waisenhauses, als Dokumentation der mehr als widrigen Umstände beim Bau und auch als Zeichen seines starken Glaubens verfasste Schneider im Jahr 1715 ein Buch mit dem Titel „Seegens-Fustapffen der auch lebenden und waltenden Güte Gottes zu Esens in Ostfriesland“.
Auffällig ist, dass Schneider das Buch zwar verfasst, aber es noch gar nicht zum Druck vorgesehen hatte. So schreibt er an Francke in Halle, das Werk sei „ohn mein Wißen, doch nicht wider meinen Willen“ erschienen. Es scheint als habe Schneider eine Manuskriptfassung verliehen, die dann in den Druck gelangte.
Das Werk Schneiders ist relativ kleinteilig gegliedert und befasst sich – unberücksichtigt sind die vielen religiösen Kommentare ohne konkreten Bezug zu Esens – mit der Finanzierung, dem Bau und dem Betrieb des Waisenhauses in Esens sowie den damit verbundenen Schwierigkeiten, die er nur Kraft seines Glaubens überwinden konnte. Stilistisch versucht der Autor dies durch Dichotomien zu verdeutlichen, wenn er sich als wahrhaften Chronisten des Waisenhauses darstellt und die Gegenpartei unter der Überschrift „Unwahrheiten und Lügen“ präsentiert.
Der wohl größte Teil des Buches ist eine Art Rechenschaftsbericht über die Finanzierung des Waisenhauses (S. 28-79), denn „ohne Geld“ lasse sich keine Armenfürsorge betreiben (S. 12). In diesem Abschnitt werden explizit und chronologisch alle Einzelspenden genannt, vor allem sehr viele kleine Summen, die Schneider oft von Freunden aus aller Welt erreichten, aber auch von Witwen in Ostfriesland, die einen Teil ihres Erbes dem Waisenhaus vermachten. Auffällig ist auch die Häufigkeit von Spenden in Naturalien. So liest man von gespendetem Bier für die Arbeiter, einem geschenkten Leuchter für den großen Saal und auch von goldenem Schmuck, der Schneider zum Eintausch überlassen wurde. Schneider nutzt diesen Teil auch, um sich zu einem nimmermüden Sammler zu stilisieren, der jeden noch so kleinen Betrag mit aufopferungsvoller Hingabe und großem Vertrauen in Gott gesammelt hat, um Esens sein dringend notwendiges Waisenhaus zu schenken.
Ganz unchristlich ist schließlich Schneiders Abrechnung mit seinen Gegnern in Esens, die sich durch das ganze Werk zieht. So schreibt er schon zu Beginn, dass sich jeder täusche, der mit einem Bau des Waisenhauses „in aller Stille und Ruhe ungehindert“ gerechnet hat. Stattdessen habe der „Feind alles Guten“ seine Pläne „nicht unangefochten gelassen“ durch allerlei Lügen und anderen „lasterhaften Dingen“ (S. 2). Er habe diese Lügen zwar auch in seinen Predigten zu widerlegen versucht, aber jeder in Esens habe nur der „Lügen-Seite“ Glauben geschenkt (S. 3).
Letztlich ist es aber doch die gottgegebene Hoffnung auf die gute Zukunft für das Waisenhaus, die das Denken von Schneider bestimmte, wenn auch der Kampf seine Opfer forderte. Im Sommer 1724 schien sich für Schneider ein Ausweg aus dem widerspenstigen Umfeld in Esens zu bieten. Francke schrieb ihm nämlich aus Halle, dass er eine mögliche Stelle bei einer indischen Mission anbieten könne. Dies hat Schneider aber aus gesundheitlichen Gründen abgelehnt. Er verstarb schon gut ein Jahr später am 4. Juli 1725 mit nur 48 Jahren in Esens. Sein Waisenhaus sollte auch ohne ihn noch bis 1860 fortbestehen, fiel dann aber dem großen Stadtbrand zum Opfer.
Wilhelm Christian Schneider ist heute in Esens weitgehend in Vergessenheit geraten. Heute erinnert vor allem die 1981 nach ihm benannte Christian-Wilhelm-Schneider-Schule an ihn.
Neben seinen „Seegens-Fustapffen der auch lebenden und waltenden Güte Gottes“ sind es vor allem die von Schneider minutiös verfassten und mit allerlei feinen Skizzen angereicherten Waisenhausrechnungen, die heute noch an ihn und sein Wirken in und vor allem für Esens erinnern.
Bis Anfang Oktober 2024 sind beide Werke Schneiders – die Kirchenrechnungen als freundliche Leihgabe der Kirchengemeinde Esens – auch im Original in der Landschaftsbibliothek zu bewundern.
Heiko Suhr