Aus Alt mach Neu: Spätmittelalterliche Liturgiehandschriften und frühneuzeitliche Wissenskultur
– Dictionarium historicum, ac poeticum: omnia gentium, hominum, deorum, regionum, locorum, fluuiorum, ac montium antiqua recentioraque, ad sacras & profanas historias, poetarumque fabulas intelligendas necessaria, vocabula, optimo ordine complectens, [Genf] 1579 –
Das „Dictionarium historicum, ac poeticum […]“ aus der Werkstatt der französischen Drucker- und Verleger-Dynastie Estienne ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Wissenskultur des 16. Jahrhunderts, die in Form enzyklopädischer und lexikalischer Werke bestrebt war, das Weltwissen möglichst vollständig und geordnet aufzubereiten und zu präsentieren. Zudem ist das Exemplar der Landschaftsbibliothek Aurich auch ein ästhetisches Highlight. Umhüllt von Pergamentmakulatur einer spätmittelalterlichen, liturgischen Handschrift wird der Einband von der kalligraphisch ausgeformten Textura-Buchschrift mit ihren charakteristischen, gebrochenen Schäften sowie von zum Teil mühevoll ausgestalteten, roten und blauen Initialen und Hervorhebungen geziert.
Die Entwicklung der Buchdrucktechnik ab der Mitte des 15. Jahrhunderts eröffnete im europäischen Raum neue Möglichkeiten der Produktion und Zirkulation von Wissen in schriftlicher Form. Im Zuge dieses Prozesses entstanden in Form, Gestalt und Benennung neuartige Textgattungen, zu denen auch Enzyklopädien und Wörterbücher zählten. Das „Dictionarium historicum, ac poeticum“ stellt einen wertvollen Beitrag zu dieser noch jungen Tradition dar. In alphabetischer Ordnung enthält das Werk mehr oder weniger ausführliche Einträge zu Personen, „Nationen“, einzelnen Regionen und Orten, Flüssen und Gebirgen sowie zu Autoren geistlicher und weltlicher Literatur. Entgegen der Titulierung als Dictionarium (= Wörterbuch) handelt es sich somit vielmehr um eine Universalenzyklopädie, die das gesammelte Wissen der Zeit zur Verfügung stellen wollte. Das später hinzugefügte Vorwort des Druckers unterstreicht zudem, dass zu jedem der Einträge auch die entsprechenden Quellen genannt wurden, um einen einfachen Zugang zu dem reichen Wissensschatz zu ermöglichen. Der Erfolg gab dem Projekt recht: Das Werk gehörte ab dem späten 16. Jahrhundert nicht nur zum Standardrepertoire privater Bibliotheken und Schulbibliotheken, sondern befand sich ebenfalls im Bücherbestand der englischen Könige und Königinnen Maria I., Elisabeth I. und Jakob I.
Auch zum (ost-)friesischen Raum enthält das Werk einige Einträge. So wird etwa über das Volk der Friesen berichtet, welches jenseits des Rheins unmittelbar am Meer lebe, wobei man sich hier auf das Werk des griechischen Gelehrten Claudius Ptolemäus stützte. Im Eintrag über die Ems wird zunächst von den divergierenden Benennungen des Flusses berichtet. Während der römische Geograph Pomponius Mela vom Fluss Amisius sprach, bezeichnete wiederum Claudius Ptolemäus den Fluss als Amasius. Allerdings wird im Eintrag eine mögliche Verwechslung der Ems mit der Weser bzw. der Oder bei Ptolemäus nicht ausgeschlossen. Über den Verlauf der Ems wird berichtet, dass diese im westfälischen Gebirge entspränge und durch das Gebiet der Friesen sowie der Bremer verlaufe, bevor der Fluss in das Meer münde.
Urheber des Werkes war die französische Drucker- und Verlegerdynastie Estienne. Robert Estienne (* 1499/1503 Paris, † 1559 Genf), der die von seinem Vater Henri begründete Tradition als Buchdrucker fortsetzte, gehörte zur zweiten Generation der Familie, die in insgesamt acht Generationen zwischen 1502 und 1664 ca. 1600 Werke herausbrachte. Meist handelte es sich dabei um Texte antiker oder zeitgenössischer Autoren, ebenso befanden sich hierunter aber auch von den Estiennes selbst verfasste Werke. Nachdem Robert aufgrund königlicher Zensur sein Druckereigewerbe ab 1548 nach Genf verlagerte, wurden seine Geschäfte als Verleger und Drucker in Paris von seinem Bruder Charles (*1504 Paris, † 1564 Paris) übernommen, der zunächst Medizin in Paris studiert hatte, dort promovierte und als Anatom an der Medizinischen Fakultät tätig war. Eben jenem Charles Estienne wird die Verfasserschaft des „Dictionarium“ zugeschrieben, wenngleich sein Bruder Robert den im Jahr 1553 erstmals veröffentlichten Text des vorliegenden Werkes wohl bereits weitgehend fertiggestellt hatte. Das Exemplar im Bestand der Landschaftsbibliothek wurde hingegen erst im Jahr 1579 vom Genfer Drucker Jacob Stoer hergestellt.
Auf dem mit Pergamentmakulatur überzogenen Pappeinband des Werkes erkennt der kundige Betrachter eine gotische Minuskel des Spätmittelalters. Konkret handelt es sich um die sogenannte Textura-Buchschrift, die im deutschen Raum ihre Blütezeit im 13. und 14. Jahrhundert erlebte. Charakteristisch für die Textura sind die gebrochenen Bögen, die gerade aufgerichteten Schäfte und die Streckung der Mittellängen, wodurch das charakteristische, gitterartige Schriftbild entsteht. Im Fall der vorliegenden, makulierten Pergamentseite bewegt sich das Schriftbild innerhalb der vorgefertigten Linierung, die sowohl die einzelnen Zeilen als auch den Beschreibraum der Spalten zum linken und rechten Rand der Seite begrenzte.
In roter Hervorhebungsschrift lassen sich hierauf nach dem christlichen Heiligenkalender datierte Tage des Monats August erkennen. Innerhalb der chronologischen Gliederung wurde überdies eine weitere Unterteilung vorgenommen. Es handelt sich dabei um rubrizierte Abkürzungen, die dem Gottesdienst des lateinischen Ritus zuzuordnen sind. Die makulierte Seite entstammt somit ursprünglich einem liturgischen Buch, das im gottesdienstlichen Kontext genutzt worden sein dürfte, durch die Reformation sowie die Liturgiereformen des 16. Jahrhunderts keine praktische Verwendung mehr besaß und entsprechend der zeitgenössischen Mode eine Neuverwendung als Einband erfuhr.
Christopher Folkens