Ein „Federkrieg“ zwischen Aurich und Emden
– Die Streitschriften der Emder Aufständischen und des Grafen Enno III. im Jahr 1602 –
Ostfriesland geriet im Jahr 1602 in der Auseinandersetzung der Stände mit dem Grafenhaus bis an die Grenze eines Bürgerkriegs. 1595 hatte Graf Edzard II. in der „Emder Revolution“ mit seiner Familie aus seiner Residenz vor den Emder Aufständischen nach Aurich fliehen müssen. Mit Unterstützung aus den niederländischen Generalstaaten wurde der Graf gezwungen, seinen Machtverlust im Vertrag von Delfzijl anzuerkennen und auf seine althergebrachten Rechte in Emden zu verzichten. Als aber 1599 Graf Enno III. auf seinen Vater Edzard II. folgte, schienen sich die Machtverhältnisse zu verschieben. Enno holte sich mit dem früheren Wittenberger Professor Thomas Franzius (1563 – 1614) einen klugen und loyalen Kanzler an seine Seite. Mit ihm gelang es, im Jahr 1600, den Berumer Vergleich abzuschließen und das Harlingerland für das Grafenhaus zu gewinnen. Enno III. schien sich im Aufwind zu befinden, aber er scheiterte 1601 mit dem Versuch, seine schwierige finanzielle Situation durch eine ostfrieslandweite Steuererhöhung zu beheben. In Emden und Norden kam es deshalb sogar zum offenen Aufruhr.
Im Gegenzug konnte Enno aber auf einem Landtag in Emden am 23. April 1602 ein kaiserliches Mandat gegen die Aufständischen verkünden lassen. Das war der Auftakt einer neuerlichen krisenhaften Zuspitzung: Enno III. warb Söldner an, ging gewaltsam gegen die Bürger Nordens vor, befestigte Hinte und Larrelt und ließ vor den Toren Emdens die Logumer Schanze ausbauen. Die Generalstaaten schickten als Antwort 18 Kompanien zum Schutz der Stadt Emden. Anfang November 1602 nahmen 1400 Soldaten schließlich die gräflichen Schanzen ein. Enno III. verließ daraufhin für einige Monate seine Grafschaft.
In dieser schweren Auseinandersetzung war es für beide Parteien wichtig, im Kampf um die Deutungshoheit die öffentliche Meinung auf ihrer Seite zu wissen. In schneller Folge erschienen von Mai bis November 1602 innerhalb von nur jeweils wenigen Wochen sieben immer umfangreicher werdende Schmäh- und Verteidigungsschriften. Gespickt mit gegenseitigen Vorwürfen sollten sie jedes Mal die Legitimität des eigenen Handelns begründen und den Gegner verunglimpfen. Nachdem die auf dem ostfriesischen Landtag gehaltene Rede des kaiserlichen Gesandten und anschließend die kaiserlichen Mandate gegen den „Embdischen tumult“ in Druck gebracht worden waren, begann der „Feder-Krieg“ mit einer kleinen Emder Hetzschrift gegen Graf Enno, die mit ironischer Spitze Thomas Franzius als scheinbaren Autoren benennt. Darauf antwortete man aus Aurich mit einer Schrift, die angeblich der Emder Ballenmacher und Aufständische Peter Eeck verfasst habe sollte. Tatsächlich ist aber Dothias Wiarda der Urheber dieser beißenden Satire gegen die Aufständischen. Wiarda hatte kurz zuvor noch in Emder Diensten gestanden, was ihm die besondere Feindschaft der Emder einbrachte. Wegen seines Frontenwechsels wurde ihm Falschheit und Hinterlist vorgeworfen.
In Emden wurde seit dem Frühjahr an einer Verteidigungsschrift gegen die kaiserlichen Mandate gearbeitet. Weil dieses umfangreiche Werk nicht rechtzeitig fertig wurde, veröffentlichte man schließlich eine „vorläufige Apologie“, die Enno III. den Ostfriesen als „brüllenden Löwen und gierigen Bär“ präsentierte. Das blieb in Aurich nicht unerwidert, Dothias Wiarda verfasste unter dem Pseudonym „Constatinus Accursius von Wahrmundt“ – also: jemand, der beständig und wortreich die Wahrheit sagt – eine giftige „Erleuterung Deß Vorlauffers“.
Bald darauf wurde aber mit der „Apologia“ die in diesem Jahr letzte und mit 588 Seiten umfangreichste Veröffentlichung in dieser Serie publiziert. In ihr wird der Ablauf der Ereignisse seit der Revolution 1595 aus Emder Perspektive wiedergegeben. Erneut wird kein Autor genannt, aber es wird vermutet, dass die Apologia vielleicht von Ubbo Emmius formuliert oder zumindest von ihm betreut und in Groningen in Druck gebracht wurde. 1603 wurde schließlich ebenfalls bei Gerhard Ketel in Groningen ein 182 Seiten zählender Ergänzungsband zur Apologia gedruckt, der als Quellenanhang noch einmal die eigene Position und Interpretation der Ereignisse untermauern sollte.
Die gesamte Auseinandersetzung wurde auf Hochdeutsch geführt, obwohl den Emdern das Niederländische als Schriftsprache durchaus geläufiger gewesen wäre. Aber man legte offensichtlich Wert darauf, auch in Deutschland gelesen und verstanden zu werden. Tatsächlich sind die meisten der hier angeführten Werke nachweislich auch nach Göttingen, Braunschweig, Hannover und Wolfenbüttel gelangt.
Die kleineren, schlicht aufgemachten Emder Flugschriften stammten zunächst aus der örtlichen Werkstatt des Johann Hinrichs. Die letzten großen Druckschriften wurden aber bei Gerhard Ketel in Groningen produziert, vermutlich weil man in Emden nicht mehr über eine Offizin verfügte, die solche Schriften auf hohem Niveau in Druck bringen konnte. Enno III. befand sich also im Vorteil, weil sein Drucker Johann von Oldersum, der seine Offizin früher in Emden gehabt hatte, mit seinem Vater nach Aurich gegangen war und seine Werkstatt auf dem Schloss eingerichtet hatte. Aber das half ihm schließlich ebenso wenig wie das Veröffentlichungsverbot, das Kanzler Thomas Franzius 1603 auf dem Reichstag in Regensburg gegen die Apologia im Deutschen Reich bewirken konnte. Nach der erneuten gräflichen Niederlage setzte sich in der Geschichtsschreibung am Ende auch die ständische Deutung der Ereignisse durch, die in der Apologia präsentiert wurde. Der spätere Historiker der Landstände, Tilemann Dothias Wiarda, bezieht sich fast 190 Jahre später in seiner „Ostfriesischen Geschichte“ bei seiner Darstellung der Jahre 1595 bis 1602 vor allem auf diese Quelle und hat dadurch bis heute das Bild der Emder Revolution geprägt.
Paul Weßels