„Dafür müssen die Friesen Ihnen ein Haus bauen!“
– Willrath Dreesen – Eala Freya Fresena, Oldenburg und Leipzig 1906 –
1906 erschien bei Rudolf Schwartz in der Oldenburger Schulze’schen Hofbuchhandlung unter dem Titel „Eala freya fresena“ ein schmales Buch mit ostfriesischen Balladen. Der Autor, Willrath Dreesen (1878-1950) aus Norden lieferte mit diesem Buch seinen Beitrag zu einer kleinen Hochkonjunktur historischer Balladendichtungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Willrath Dreesens Eltern betrieben in Norden eine kleine Kolonialwarenhandlung. Dreesen war ein hochbegabter Schüler, deshalb konnte er mit städtischer Förderung nach dem Abitur ein Theologiestudium in Göttingen antreten. Nach weiteren Stationen in Marburg und Basel ging er 1902 nach Bonn, wo er sich entschied, Germanistik, Philosophie und Literaturgeschichte zu studieren. 1904 schloss er eine Promotion über Theodor Storm mit summa cum laude ab.
Ebenfalls 1904 veröffentlichte Wilrath Dreesen bei Cotta in Stuttgart und Berlin unter dem Titel „Meer, Marsch und Leben“ auch einen ersten Band mit Gedichten. Er blieb in Bonn, heiratete 1907 Helene Eymael aus Mönchengladbach und ernährte Frau und Kind mehr schlecht als recht als freier Schriftsteller und Rezitator, bis er 1913 einen Ruf als Lektor für Sprechkunst und Ästhetik an der Universität Frankfurt annahm.
Willrath Dreesen hat nur in einer relativ kurzen Phase von 1902 bis 1912 als Dichter gearbeitet. Am Übergang vom Realismus zur Neuromantik stehend zeigte er sich einerseits sehr formbewusst und pflegte andererseits eine Vorliebe für Naturmetaphorik, Sagen und historische Stoffe. Wichtigste Inspirationsquelle war für ihn seine Sehnsucht nach Ostfriesland.
Der erste Gedichtband „Meer, Marsch und Leben“ ist mit seiner Naturlyrik und mit seinem Streben nach Innerlichkeit nach seinem eigenen Bekunden von Detlev von Liliencron aber mehr noch von Theodor Storm beeinflusst. Über die Entstehung des nachfolgenden Balladen-Bands „Eala freya fresena!“ schrieb er, dass er in einem Wald bei Bonn einmal „von der frühlingshaften Stimmung so gepackt gewesen sei, dass er auf einen Baum stieg, sich auf einen Ast setzte „und den größten Teil der Balladen in einem Anlauf gestaltete.“ Der 1906 in Oldenburg und Leipzig herausgegebene Band ist auffällig gestaltet: Der silberne Löwe mit der umgedrehten Krone als Halsband im blauen Feld auf dem Einband entstammt dem Wappen der Häuptlingsfamilie Ukena. Der Goldschnitt auf der Oberseite des Buchblocks signalisiert Gediegenheit, doch ist das dicke Druckpapier an der Seite und unten unbeschnitten geblieben, als handele es sich hier um ein kleines Bündel mittelalterlicher Pergamente.
Als Balladendichter wollte Willrath Dreesen „[…] möglichst kleine Dramen“ bieten. Thematisiert werden z.B. der Widerstand der Friesen gegen die Normannen, die Schlacht bei Norden 1107 oder die Quade Foelke. Die Balladen beginnen auf der rechten Buchseite mit einer Jugendstil-Vignette mit Großbuchstaben. Gegenüber auf der linken Seite finden sich häufig in kleinerer Drucktype „Zitate“ z.B. aus Eggerik Beningas Cronica der Freesen. Aufmachung des Buchs und die Darbietung der Balladen fordern also spielerisch die Glaubwürdigkeit der erzählten Geschichten ein und betonen zugleich Kunstcharakter und Fiktionalität des Werks.
Willrath Dreesens früherer Universitätsprofessor Litzmann sagte, nachdem Dreesen die Balladen vorgetragen hatte: „Dafür müssen die Friesen Ihnen ein Haus bauen!“ Aber er hatte mit seinen Balladen keinen Erfolg. Anders mit seinem 1910 veröffentlichten Roman „Ebba Hüsing“: Ein Heimatroman über das Seelenleben einer intelligenten, starken, jungen Frau, die sich zwischen zwei Männern entscheiden soll, beide liebt und schließlich doch ihren eigenen Weg geht. Dieser Roman wurde in Norden aber gar nicht geschätzt, weil man das Buch als „Schlüsselroman“ las und in den Porträts von Romanfiguren lebende Personen aus Norden wiederzuerkennen glaubte. Der Roman wurde in mehreren Auflagen gedruckt und ist in etwa 100.000 Exemplaren erschienen. Zwei weitere Veröffentlichungen aus dem Jahr 1910, das ostfriesische Häuptlingsdrama „Sturmflut“ um Focko Ukena und ein weiterer Band mit 30 sehr formstrengen und reduzierten Gedichten fanden aber wenig Aufmerksamkeit. Vielleicht waren es also wirtschaftliche Zwänge, die Willrath Dreesen zwangen, das Lektorat für Sprechkunst und Ästhetik an der Universität Frankfurt anzunehmen.
Es folgt ein von starken Wendungen geprägter Lebenslauf abseits eines Dichterlebens: Kriegsdienst von 1914 bis 1918 in einer Garnison in Aachen, eine Scheidung der ersten Ehe und eine Heirat mit der Fabrikantentochter Maria Kugel aus Werdohl, mit der er zwei weitere Kinder hatte. Dreesen wurde nach dem Krieg „Verlagsdirektor“ im Reclam-Verlag in Leipzig, entschloss sich aber 1922 wegen der Inflation zur Rückkehr in das Haus seiner Frau auf Langeoog. Hier wurde er 1924 Gemeindevorsteher und durch seine dynamische Amtsführung später Schifffahrtsdirektor und Kurdirektor. 1928 legte er sein Amt nieder, und 1930 wurde er wieder erfolgreicher Kurdirektor im Hermannsbad im kleinen Bad Lausick unweit von Leipzig. Als das Hermannsbad von den Russen 1946 enteignet wurde, machte man Willrath Dreesen zum Treuhänder des Landes Sachsen, und zum Ende des Jahres 1948 wurde er in den Ruhestand entlassen.
Dreesen kehrte erneut zurück nach Langeoog, wollte sich wieder der Dichtung widmen, wurde 1949 Obmann des Schrifttumsausschusses der Ostfriesischen Landschaft und fast gleichzeitig zum zweiten Mal Kurdirektor seiner Insel. Im April 1950 organisierte er hier in seinem Haus und im Rathaus zusammen mit Bruno Loets noch eine ostfriesische Dichtertagung. Auf dieses erste Treffen sollte ein großer ostfriesischer Dichtertag folgen. Aber er starb am 14. August 1950 an einem Herzschlag. Seine Witwe gab drei Jahre später sein Spätwerk – 47 Gedichte aus den vorangegangenen 10 Jahren – unter dem Titel „Der Eisvogel“ heraus.
Paul Weßels