Projektvorstellung
Seit den 1990er Jahren hat sich in der Geschichtswissenschaft eine allgemeine NS-Täterforschung etabliert, die besonders die Herrschaftspraktiken und Gewaltverbrechen des Führungspersonals der NSDAP in den Blick nimmt. Hierdurch konnten bisher wichtige Erkenntnisse zur heterogenen Personal- und Herrschaftsstruktur des NS-Regimes gewonnen werden. Dennoch erweist sich diese Perspektive in der ostfriesischen Regionalforschung bisher als Desiderat. Daher verfolgt die Ostfriesische Landschaft seit einigen Jahren die Umsetzung eines Projekts, das sich der systematischen Erforschung des NS-Funktionärskorps in Ostfriesland widmet.
Dank der Förderung der Samson Charity Foundation und der Gerhard ten Doornkaat Koolman-Stiftung konnte in Kooperation mit der Universität Oldenburg das auf vier Jahre ausgelegte Dissertationsprojekt im September 2024 schließlich starten.
Ergebnisse der Vorstudie
Im Vorfeld des Projekts wurde eine Machbarkeitsstudie durchgeführt, die zentrale NS-Funktionäre der Region identifizierte, darunter die Kreisleiter, Kreisfrauenschaftsleiterinnen, Ortsgruppenleiter, Stützpunktleiter, Ortsfrauenschaftsleiterinnen, SA-Standartenführer und Vorsitzenden der Kreisgerichte. Parallel dazu erfolgte eine umfangreiche Recherche zur vorhandenen Quellen- und Literaturlage.
Die Ergebnisse dieser Vorstudie erweisen sich mit Blick auf das untersuchte Führungskorps als äußerst disparat. Während für die Kreis- und Ortsgruppenleiter eine insgesamt positive Quellen- und Literaturlage festgestellt werden konnte, ist das verfügbare Material zum Beispiel für die Vorsitzenden der Kreisgerichte oder die Ortsfrauenschaftsleiterinnen sehr begrenzt.
Darüber hinaus treten signifikante Unterschiede zwischen den Kreisen zutage: Im Kreis Wittmund wurden beispielsweise nur 26 Ortsgruppenleiter ermittelt, während im Kreis Leer 73 Personen dieser Leitungsebene zuzuordnen sind. Ebenso variieren die verfügbaren Quellen erheblich zwischen den einzelnen Kreisen.
Es wird erwartet, dass die weiterführenden Forschungen die bisher ermittelten Zahlen weiter ergänzen und die regionalen Unterschiede möglicherweise relativieren. Dennoch unterstreichen die bisherigen Ergebnisse die teils problematische Quellenlage in bestimmten Regionen Ostfrieslands.
Forschungsperspektiven und Einladung zur Mitarbeit
Für das Dissertationsprojekt eignen sich – nicht zuletzt aufgrund der verfügbaren Quellenlage – die Ebenen der Kreis- und Ortsgruppenleiter für eine detaillierte Betrachtung. Vergleichsstudien aus Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg zeigen, dass durch die soziale und biografische Analyse des unteren NS-Führungskorps Einblicke in persönliche Motive, soziale Netzwerke und Parteikarrieren gewonnen werden können.
Davon ausgehend lassen sich Rückschlüsse auf die Herrschaftspraktiken und polykratischen Strukturen der NSDAP ableiten. Diese Herangehensweise ermöglicht es zum einen, regionale Gegeben- und Besonderheiten zu identifizieren, die die Herrschaftsstrukturen der Nationalsozialisten in Ostfriesland prägten. Zum anderen kann die systematische Erforschung der unteren Führungsebene des NS-Regimes in Ostfriesland die allgemeine Täterforschung durch neue Erkenntnisse ergänzen.
Dieser Beitrag versteht sich neben der Projektvorstellung als Einladung an alle Interessierten, die zum Projekterfolg beitragen möchten – ob durch die Bereitstellung von Quellenmaterial, wissenschaftliche Expertise oder Anregungen zu spezifischen Fragestellungen: jede Unterstützung ist herzlich willkommen.
Ansprechpartnerin/Kontakt
Landschaftsbibliothek
Miriam Klapproth
Telefon: 04941 1799-41
E-Mail: klapproth@ostfriesischelandschaft.de