• Ostfriesische Zeitschwingen - Nummer 1 (1848), Titelblatt

Ostfriesische Zeitschwingen (1848-1849)

Revolution fürs Bürgertum

Ostfriesland galt 1848 aus der Sicht des Königs in Hannover als Hort der Revolution mit mehr Volksversammlungen und Petitionen als anderswo. Und nachdem auch die Pressefreiheit eingeführt worden war, kam es hier kurzfristig zu einer Reihe von Zeitungsneugründungen. Zum 7. Mai 1848 erschien in Aurich ein neues revolutionäres Wochenblatt: „Ostfriesische Zeitschwingen. Blätter zur Besprechung vaterländischer Interessen“. Verantwortlicher Redakteur war der junge Auricher Gymnasiallehrer Franz Wilhelm Miquèl, und herausgegeben wurde die kleine Zeitschrift im Umfang von vier Seiten zunächst vom Verlag der Auricher Buchhandlung Prätorius und Seyde. Zwei wöchentliche Ausgaben waren geplant, nach fast einem Jahr wurde die Herausgabe mit dem 20. März 1849 unvermittelt abgebrochen.

Mit dem Titel „Ostfriesische Zeitschwingen“ schloss Miquèl direkt in die liberaldemokratische und deutschnationale Tradition Ludwig Börnes an, der seinerseits 1819 kurzzeitig ein Blatt unter dem Titel „Zeitschwingen, oder Des deutschen Volkes fliegende Blätter“ herausgab. Mit Stil und Inhalt wandte sich Miquèl aber an das ostfriesische Bildungsbürgertum.

Franz Wilhelm Miquèl war aus bürgerlichem Elternhaus kommend schon als Student in Göttingen politisch interessiert. Im Anschluss an sein Studium lernte er in England die konstitutionelle Monarchie mit starken Bürgerrechten kennen und schätzen. Zu Beginn des Jahres 1842 kam Miquèl als Junglehrer an das Auricher Gymnasium. Öffentliche Anerkennung hatte er sich hier auch durch Vorträge nicht nur mit historischen Inhalten, sondern auch bereits zu Themen wie Kommunismus und Sozialismus erworben.

Die „Zeitschwingen“ wurden im Amtsblatt für die Provinz Ostfriesland vom 4. April 1848 mit revolutionärem Elan und politischen Idealismus angekündigt: „Mitbürger! Wir sind frei! Gebrochen sind die Fesseln, […] der Alp des Polizeistaates ist abgeschüttelt, und frei atmet die Brust in der frischen Morgenluft der Freiheit.“ Dem didaktischen Zweck der „Zeitschwingen“ folgend sollten diese neben den Informationen über tagespolitische Vorgänge in Ostfriesland, im Königreich und in der Nation vor allem auch in Ostfriesland der politischen Fortbildung dienen. Das Presserecht erlaubte den anonymen Abdruck der Beiträge, und nur wenige Artikel lassen sich namentlich zuordnen, weil sie mit Namenskürzeln versehen oder noch seltener namentlich unterzeichnet wurden. Miquèl können also vermutlich viele Beiträge der „Ostfriesischen Zeitschwingen“ zugeschrieben werden, aber es bleibt offen, wer sich sonst noch beteiligte.

Neben Berichten aus der Auricher Bürgerversammlung und der Publikation von politischen Adressen aus Ostfriesland werden auch ganz grundsätzliche Artikel etwa zur „Bedeutung der Arbeiterfrage“, zur Bürokratie, Volkssouveränität, zu Republik und konstitutioneller Monarchie abgedruckt. Schon mangels anderer damals zugänglicher Quellen und Literatur war dieses Engagement sinnvoll. Einige Artikel sollen auch von verschiedenen Vereinen zur Schulung verwendet worden sein.

Wegen der Zurückdrängung der Revolution im fortschreitenden Jahr 1848 traten die „Ostfriesischen Zeitschwingen“ immer entschiedener für die Verteidigung der errungenen Freiheiten ein, und zugleich wurde auch die soziale Frage stärker diskutiert. Die Landdrostei in Aurich hatte Miquèl als „Haupturheber der künstlichen Unruhe in unserem kleinen Vaterlande“ identifiziert. Er wurde von seinen Gegnern als Radikaler und Kommunist bezeichnet, tatsächlich strebte er als bürgerlich Gemäßigter aber nicht mehr als eine konstitutionelle Monarchie an. Revolutionäre Gewaltausbrüche schreckten ihn ab. Landdrost Marschalck schrieb aber am 27. September 1848 nach Hannover, man halte die „Entfernung“ des Lehrers Miquèl aus Aurich für erforderlich, weil dieser angefangen habe, „seine Agitation auch auf den Arbeiterstand auszudehnen“.

Am 10. Oktober 1848 wurde Miquèl an das Königliche Stifts-Pädagogium Ilfeld in die hannoversche Exklave am Südrand des Harzes versetzt. Er blieb dort nur für ein Jahr und übernahm zum 1. Oktober 1849 in Emden die Schriftleitung der neu ins Leben gerufenen „Ostfriesischen Volkszeitung“, schied hier aber schon am 11. Februar 1850 wieder aus. Es heißt, die Emder Demokraten hätten sich zerstritten. Seine letzten Lebensjahre verbrachte Miquèl wieder bei seiner Familie in Neuenhaus, wo er 1855 im Alter von nur 37 Jahren verstarb.

Mit dem Wegggang Miquèls aus Aurich übernahm der Verlag Prätorius und Seyde vorläufig auch die Verantwortung für die Redaktion, bis Gottfried Wilhelm Bueren (1801-1859) zum 1. Januar 1849 für den Inhalt der „Zeitschwingen“ verantwortlich wurde. Zugleich wechselte das Blatt in den Emder Verlag Woortmann. Bueren war Stadtsyndikus in Emden und bereits vor der Revolution ein in Ostfriesland bekannter Dichter. Nach 1848 trat er als einer der herausragenden Vertreter der Freiheitsbewegung in Emden und als Deputierter der Ständeversammlung in Hannover hervor.

Äußerlich veränderten die „Zeitschwingen“ ihr Gesicht, indem sie in der Titelgestaltung dem ebenfalls bei Woortmann erscheinenden Emder Volksblatt angeglichen wurden. Inhaltlich nahm der Abdruck von Gedichten und politischen Texten Buerens stark zu. Die politischen Auseinandersetzungen in Emden, in Hannover und im Reich wurden bestimmender. Buerens Beiträge waren im Stil deutlich bissiger und durch komplexen Satzbau und viele Anspielungen verschlüsselter. Miquèls ursprüngliches Ziel der allgemeinen politischen Bildung trat jetzt deutlich in den Hintergrund.

Da Bueren zugleich auch als Deputierter in Hannover engagiert war, konnte es für ihn nicht einfach sein, die regelmäßige Herausgabe des Blatts sicherzustellen. Am 20. März 1849 setzte das Erscheinen unvermittelt aus. Der Stadtsyndikus verließ Emden drei Jahre nach Miquèl, wurde am 1. Mai 1853 Obergerichtsanwalt in Meppen und verstarb hier 1859.

Wegen der seit 1747 enthaltenen ungeheuren Zahl von Verordnungen und privaten Anzeigen bildet das Amtsblatt heute eine Fundgrube für die ostfriesische Geschichte und Familiengeschichte. Aber leider ist der Inhalt nie systematisch erschlossen worden. Eine gezielte Suche nach Sachverhalten oder Personen ist nur möglich, wenn der Zeitraum für die Suche eingegrenzt werden kann. Dennoch sind die Jahrgangsbände des Amtsblatts eine immer wieder gern von den Lesern der Landschaftsbibliothek herangezogene Quelle.

Paul Weßels

Digitalisate siehe: Historische Publikationen zur Landesgeschichte / Amtsblätter und Zeitungen

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