1910 erschien im Verlag von A. H. F. Dunkmann in Aurich eine Sammelmappe unter dem Titel „Entwürfe einfacher Gebäude in ostfriesischer Bauart“. Diese Publikation steht im Zusammenhang mit der in diesen Jahrzehnten stark aufkommenden Heimatbewegung und der Idee des Schutzes der „heimischen Bauweise“. Am 4. Mai 1909 hatte Landrat Dr. Ernst Budde aus Wittmund ein Schreiben an die Ostfriesische Landschaft gesandt, in dem er sich über die mangelnde ästhetische Qualität der Fassaden der in den letzten Jahren gebauten Häuser beklagte. Er machte den Vorschlag, ein Preisausschreiben zur Förderung landestypischer Architektur zu veranstalten. Bei der Ostfriesischen Landschaft wurde der Gedanke gerne aufgegriffen. Im Vorwort zu den „Entwürfen einfacher Gebäude in ostfriesischer Bauart“ hieß es ein Jahr später, „dem Eindringen fremdartiger Baustile in Ostfriesland“ müsse Einhalt geboten werden, der „heimische Baustil“ ginge verloren, und es würden „vielfach Stilformen verwendet, durch welche die Schönheit der Landschaft und ihre Dorf- und Städtebilder in empfindlicher Weise beeinträchtigt“ würden. Man solle es vermeiden, mit den Traditionen landestypischer architektonischer Formensprache zu brechen oder statt des „erprobten bodenständigen Materials“ Baustoffe wie „unangebrachten Zierrat aus Gips, Zement oder Zink“ zu verwenden.
Die ostfriesischen Landstände beschlossen beim Oll‘ Mai 1909, zur Stützung der Bautradition Musterzeichnungen „ostfriesischer Bauart“ in einer Baufibel zu veröffentlichen. Eine dazu gewählte Kommission beauftragte den Regierungsbaumeister a. D. und Leiter der Baustelle der Landwirtschaftskammer der Provinz Hannover, Wolf Niemeyer, zunächst mit der Aufnahme historischer ostfriesischer Bauwerke. Niemeyer war Leiter der Baustelle der Landwirtschaftskammer für die Provinz Hannover und Spezialist für ländliches Bauen. Mit großer Wahrscheinlichkeit war er auch der Architekt der Marschversuchsstation Widdelswehr, die um 1909 errichtet wurde.
Bauinspektor Engelhard, Landschaftsrat von Freese-Loppersum und Architekt Niemeyer absolvierten bis Oktober 1909 gemeinsam Studienreisen durch die Kreise Aurich, Emden und Wittmund, um für die Musterzeichnungen alte ostfriesische Landhäuser zu besichtigen, zu fotografieren und Aufmessungen zu erstellen. Die zum Oll‘ Mai 1910 veröffentlichte Baufibel enthält 16 Entwürfe, die allen Bauwilligen zur Übernahme für ihre Häuser zur Verfügung standen und die einfache, „der Umgebung angepasste Bauten“ des Tieflandes darstellten, die dennoch „künstlerischen Reiz“ ausstrahlen sollten. Abgebildet werden freistehende Arbeiterwohnhäuser, Einfamilienhäuser, städtische Wohnhäuser, größere Reihenhäuser und größere städtische Gebäude mit Stallungen und Remisen. Für den landwirtschaftlichen Bereich stehen Entwürfe für größere bäuerliche Platzgebäude und Warftgebäude. Haustüren für städtische Gebäude und eine Dorfkirche schließen die Sammlung ab. Die Entwürfe zeigen starke historisierende Einflüsse nach dem Vorbild der niederländischen Renaissance- und Barock-Architektur. Bei den Arbeiterwohnhäusern wurde auf die Gulfhof-Bauweise verzichtet. Diese wurde aber für die Platz- und Warftgebäude beibehalten.
Die Auflagenhöhe der ostfriesischen Baufibel bei Dunkmann ist nicht bekannt. Die Ostfriesische Landschaft erwarb 75 Mappen, die sie an ihre Mitglieder,die Magistrate der Städte und Flecken in Ostfriesland, die Landräte, den Regierungspräsidenten, das Auricher Staatsarchiv und die Baustelle der Landwirtschaftskammer in Hannover verteilte
Die Sammelmappe traf aber nicht auf ungeteilte Zustimmung. Das preußische Ministerium der geistlichen Unterrichts- und Medizinal-Angelegenheiten unter August von Trott zu Solz weigerte sich, eine „amtliche Empfehlung“ für die Mappe auszusprechen, da „die Entwürfe in ihren Einzelheiten sehr wenig gründlich und ungleichmäßig behandelt seien und daher als Musterentwürfe generell wohl nicht bezeichnet werden könnten.“
Der erste vorgestellte Entwurf – das „freistehende Arbeiterwohnhaus für zwei Familien mit Stall“ von Wolf Niemeyer – wurde 1909 in Widdelswehr errichtet. Weitere direkte Nachweise fehlen aber bislang. Es stellt sich damit die Frage, wie wirksam diese Baufibel gewesen ist, ob also nach dem Erscheinen dieser Mappe wirklich Häuser in Ostfriesland nach diesen Vorbildern errichtet wurden. Im Anschluss an die Veröffentlichung wurde 1911 gemeinsam von der Ostfriesischen Landschaft und den Landkreisen eine „Prämierung besonders schöner und zweckmäßiger Gebäude“ ausgeschrieben. Im Landkreis Leer erhielt 1912 z.B. Zimmermeister Gerhard Müller aus Bühren für die „Erbauung eines schönen zweckmässigen landwirtschaftlichen Gebäudes“ in Großsander eine Prämie von 200 Mark. Insgesamt wurden aber von insgesamt 5.400 Mark an Prämien, die für den Zeitraum zwischen 1912 und 1914 zur Verfügung standen, nur 595 Mark ausgezahlt. Der Landrat des Kreises Weener beklagte 1912, dass er keine prämierungswürdigen Bauten gefunden habe. Die Wirksamkeit der Baufibel kann also bezweifelt werden.
Paul Weßels