Ein gewisser Albert Stockvis hat bereits im Jahr 1900 einen „Fremdenführer durch die Stadt Leer und ihre Umgebung“ im dortigen Verlag Leendertz veröffentlicht. Das ist ungewöhnlich früh, denn etwa zeitgleich entstanden die ersten Reiseführer für die ostfriesischen Inseln, und für die Stadt Emden ist der erste Führer erst 1909 erschienen. Entsprechende Publikationen für der Stadt Leer vergleichbare Orte an der Nordseeküste gibt es dagegen erst seit den 1970er Jahren.
Albert Stockvis (1878-1966) ist in Bremen in einer vermutlich jüdischen Familie geboren worden und aufgewachsen. Früh verwaist wurde er von seinem Vormund und Großvater in Mainz zur Schule geschickt. Nach dem Abschluss der Mittleren Reife ging er 1898 bei Buchhändlern in Mainz und Göttingen in die Lehre, brach diese ab und kam über Stationen in Hannoversch Münden, Kiel, Bremerhaven und Bremen im Sommer 1900 nach Ostfriesland. In Leer verfasste der Zweiundzwanzigjährige nach eigener Aussage innerhalb von zehn Tagen den kleinen, 23 Seiten umfassenden Stadtführer. In seinem Vorwort entschuldigt er mögliche sachliche Fehler der Publikation mit der Kürze der dafür aufgewendeten Zeit und mit der Tatsache, dass er zugleich auch noch andere Arbeiten zu erledigen gehabt hätte. Allerdings erhielt der junge Autor bei seiner Arbeit Unterstützung durch den Leeraner Stadtsekretär van Uphuysen, und er lehnt sich beim einleitenden geschichtlichen Überblick zu Leer eng an Otto Galama Houtrouws Ausführungen in den „geschichtlich-ortskundigen Wanderungen“ an, die erst 10 Jahre zuvor erschienen waren. Auf eine historische Einleitung folgen im Stadtführer ein „Praktischer Ratgeber“ und ein „Rundgang“. In der Aufmachung ist die Broschur noch schlicht gehalten. Immerhin findet sich in diesem Führer aber auch die erste kurze Beschreibung der Synagoge von Leer (Landschaftsbibliothek Aurich, x 73775).
Albert Stockvis nahm bald darauf die sehr viel aufwändigere Arbeit an einem ersten „Führer durch Ostfriesland, die Nordseebäder, Jever und Umgebung“ auf. Dieser ist schließlich 1902 im Verlag Schwalbe in Emden im Taschenbuchformat auf typographisch anspruchsvoll gesetzten 192 Seiten und mit fünf beigelegten Karten herausgegeben worden. Das Buch verfügt über eine hohe Informationsdichte und entspricht durchaus dem Standard der zeitgenössischen Reiseführer (Landschaftsbibliothek Aurich, x 4925).
Der Autor entwickelt in seinem Vorwort ein sehr frühes Konzept des Hinterlandtourismus. Die Mehrzahl der Urlauber könne „nicht rasch genug in den Badezügen die weiten Moor-, Heide- und Weideflächen und die Marschen Ostfrieslands, die ihm meist öde und langweilig erscheinen, durcheilen, um ans Ziel zu gelangen. Wüsste man jedoch, welch’ entzückende Partien die Natur auch hier geschaffen hat, […] sie hätten es wahrlich nicht so eilig und verweilten gern einige Zeit, um Land und Leute kennen zu lernen.“ Zugleich will er mit seinem Buch aber auch „das Interesse der Einheimischen an den mannigfachen Denkwürdigkeiten“ des Landes wecken. „In dieser Hinsicht wird der Führer als kleine Ortskunde von Ostfriesland sich bezeichnen dürfen und gerade für die Ostfriesen selbst bei Wanderungen, gelegentlichen Besuchen, Schulausflügen und dergleichen als brauchbarer Mentor sich erweisen.“
Das Buch beginnt konventionell mit einer Einführung „über das Land und seine Bewohner“. Anschließend schlägt Albert Stockvis den Bahnstrecken folgend drei „Eintrittsrouten“ in die Region unter Einschluss von Wangerooge und Jever vor: von Münster und von Bremen nach Leer sowie von Oldenburg nach Wilhelmshaven. 20 „eigentliche Routen“ sollen die Erkundung Ostfrieslands ermöglichen. Der junge Autor hat sich für die Arbeit an dem Führer wieder qualifizierter Unterstützung versichert. Beim einleitenden Teil und bei der Gesamtredaktion seines Manuskripts half ihm der Emder Peter Dekker, Oberlehrer an der Kaiser Friedrich Schule und führendes Mitglied in der Emder Kunst und in der Naturforschenden Gesellschaft.
Auffällig ist, dass es im zweiten Reiseführer, abgesehen von drei Abbildungen von Baltrum, keine Fotos von den Inseln, wenige Bilder aus den Städten und kaum Landschaftsfotos gibt. Von den mehr als 60 Fotos bildet etwa die Hälfte die Burgen und Schlösser und etwa ein Viertel sogar Innenansichten der Schlossanlagen oder das Wohninterieur der herrschaftlichen Gebäude ab. Für die Illustration ließ der Verlag die Mehrzahl der Aufnahmen speziell von den Fotografen Küster aus Quedlinburg und Mohaupt aus Emden anfertigen, um „gerade solche Ansichten zu bringen, die nicht Gegenstand von Ansichtspostkarten zu sein pflegen […]“.
Dem wilhelminischen Zeitgeist entsprechend nahm Albert Stockvis während der Arbeit an seinem Buch auch Kontakt zum „hohen Adel“ Ostfrieslands auf, was dem Autor Zugang zu einigen Schlössern und Burgen verschaffte. Mit vielen Innenaufnahmen der herrschaftlichen Gebäude bedienten Autor und Verleger sicherlich auch einen gewissen Voyeurismus ihrer Zeitgenossen, heute haben solche Fotos einen hohen historischen Wert.
Im Anschluss an seinen Aufenthalt in Ostfriesland ging Albert Stockvis nach Belgien, vermutlich um sich in Deutschland der Wehrpflicht zu entziehen, denn im August 1903 wurde er in Abwesenheit vom Landgericht München wegen „Wehrpflichtentziehung“ zu einem Monat Gefängnis verurteilt. Das Vorwort für seinen zweiten Reiseführer hatte Albert Stockvis im August 1902 in Mons in Belgien geschrieben, und als der Verlag das Buch im Laufe der zweiten Jahreshälfte herausgab, war er schon auf dem Weg in die USA. Hier zog er in die Gegend von Cleveland an den Great Lakes, hielt sich bis zu seinem Tod 1966 vornehmlich im deutschsprachigen Einwanderermilieu auf und arbeitete als Zeitungsredakteur, Anzeigenwerber und Ticketverkäufer bei verschiedenen kleinen Zeitungen.
Paul Weßels