1853 erschien unter dem Titel „Ostfriesland. Angriff und Verteidigung“ in Leer zum ersten Mal ein elfseitiges Heftchen, das noch in etlichen späteren Auflagen in der Landschaftsbibliothek in Aurich vorliegt (z.B. Sig. x 24251). Der kleine Druck war eine Reaktion auf das Spottgedicht „Ostfriesland“, das großes Aufsehen erregt hatte, als es ohne Zustimmung seines Autors zu Beginn des Jahres 1853 in ostfriesischen Tageszeitungen veröffentlicht worden war. Urheber des Gedichts war der hannoversche Offizier Leutnant Adolph von Düring, der im Dezember 1852 gegen seinen Willen von Osnabrück nach Aurich verlegt worden war. Zur Erheiterung seiner ehemaligen Kameraden verfasste er zum Silvesterabend das Spottgedicht, aber die aus Ostfriesland stammende Frau eines Osnabrücker Regimentskameraden schrieb es ab, schickte es vermutlich zu ihrer Verwandtschaft nach Norden, wo es schon am 27. Januar 1853 im „Norder Stadtblatt“ veröffentlicht wurde. Das Gedicht beginnt mit den Zeilen: „Wer kennt das Land nicht, wo der Torf die Erde / Und arger Nebel stets den Himmel deckt?“, und es endet mit der Strophe: „Ein Kamm ist eine Fabel; man betrachtet Seife / Als Sage einer unbekannten Welt. / Von fremden Sachen hat sich nur die Pfeife / Und der Schnaps zum Friesenvolk gesellt.“
Adolph von Düring spielt hier mit beißendem Spott auf Goethes Gedicht „Kennst du das Land, wo die Zitronen blühen“ an. Im Gegensatz zu Goethe zeichnet er ein Bild Ostfrieslands, das von Torf, Nebel, Dreck, Schnaps, Materialismus, Diebstahl und Totschlag geprägt ist. Nach der Veröffentlichung löste das Spottgedicht in ganz Ostfriesland eine Welle der Entrüstung aus. Es wurde zu einem Politikum, und der Leutnant wurde umgehend von Aurich nach Osnabrück zurückbeordert, nachdem es in einer Gastwirtschaft in Aurich zu einer spontanen, „seit den Bewegungsjahren [1848] nicht mehr gekannten Bürgerversammlung“ gekommen war. Der Leutnant sei „durch eine Art Razzia gefangen genommen und zur Abbitte gezwungen“ worden. Auf einem Ball habe eine Dame ihm anschließend in Anspielung auf das Gedicht einen nur noch aus wenigen Zinken bestehenden Kamm geschenkt. Zumindest zeigt sich hier ein Funken ostfriesischen Humors.
Bereits 1853 wurde auch auf dichterischer Ebene zum Gegenschlag ausgeholt. Hinrich Leerhoff Willems, Lehrer und späterer Buchhalter in Leer, publizierte im Verlag Zopfs unter dem Pseudonym Arminius Teut das Gedicht „Ein Ostfriese an den Nichtostfriesen“. Willems war publikationserfahren, hatte Gedichte veröffentlicht und verfasste später Lehrbücher z.B. zu Zeichensetzung und Rechtschreibung. Zur Widerlegung jeder einzelnen Injurie von Dürings greift er wieder zum Muster der klassischen Dichtung, aber sprachlich ist seine Antwort weit weniger elegant. Er konstruiert einen Gegensatz von stolzen Friesen einerseits und unwissenden „Deutschen“ andererseits: „Und der Himmel soll bedeckt sein (wie du sagst) mit stetem Nebel? / Freilich wer im Kopf voll Nebel, sieht auch um sich nichts als Nebel. / Doch wer Augen hat zu schauen, sieht auch über Frieslands Auen / Wie in allen deutschen Landen, lieblich klar den Himmel blauen.“
Das kleine Heft mit dem Abdruck der beiden mittelmäßigen Gedichte erlebte unter dem Titel „Ostfriesland. Angriff und Verteidigung“ zwischen 1868 und 1940 neun weitere Ausgaben. Es handelt sich damit wohl um zwei der meistgedruckten und meistrezipierten ostfriesischen Gedichte. Für die erstaunlich andauernde Nachfrage nach dieser Dichtung ist vermutlich der schon durch den Titel des Hefts sinnfällig konstruierte Gegensatz zwischen „Ostfriesland“ und „Deutschland“ verantwortlich. Durch die Heimatbewegung der Kaiserzeit entwickelte sich in Abgrenzung zu „Deutschland“ eine besondere ostfriesische Identität, die sich auf historische Wurzeln wie z.B. die Friesische Freiheit und auf regionale Besonderheiten und herausragende Tugenden bezog, die man sich selber zusprach. Dabei konnte das Heft zur Selbstvergewisserung dienen.
Nachdem die beiden Gedichte 1959 noch einmal „auf Wunsch vieler alter Ostfriesen“ im „Ostfriesischen Hauskalender“ abgedruckt wurden, sind sie fast in Vergessenheit geraten. Man darf vermuten, dass sich das ostfriesische Selbstverständnis in den vergangenen 60 Jahren grundlegend geändert hat.
Paul Weßels